Fürsorge
und Asozialen-Politik

Die Verfolgung Asozialer oder Gemeinschaftsfremder, wie sozial Unangepasste in der NS-Zeit genannt wurden, war 1938 kein Novum. Auch in Oberösterreich gab es eine lange Tradition der Unterdrückung verarmter sozialer Unterschichten (Bettler, Landstreicher, Vaganten), die im Ständestaat mit Bettlerrazzien und der Errichtung des Bettlerlagers in Schlögen einen neuen Höhepunkt erlebte. Mit den rassenhygienischen Ideen und der unterstellten Vererbbarkeit von Asozialität brachte der NS-Staat jedoch eine neue Dimension in die Fürsorgearbeit. Noch deutlicher als bisher wurde die Hilfe für Bedürftige teilweise mit Repressionsinstrumenten kombiniert. Der Staat hatte in verschiedenen Bereichen Zugriff auf soziale Randgruppen: auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik (Unfruchtbarmachung, Eheverbot), der polizeilichen Unterdrückung (vorbeugende Verbrechensbekämpfung, Polizeilager) sowie der öffentlichen Fürsorge (Einweisung in eine Fürsorgeanstalt oder ein Arbeitslager). Die verantwortlichen Stellen der öffentlichen Fürsorge warteten bis zum Kriegsende vergeblich auf eine Lösung des Asozialen-Problems durch ein Gemeinschaftsfremden-Gesetz und unterlagen deswegen in der systematischen Verfolgung von Asozialen mitunter einer gewissen Hemmung. Seit 1939 bemühte sich das Reichsjustizministerium um ein solches reichseinheitliches Gesetz, das die Verfolgung der Asozialen zentralisiert und vereinheitlicht hätte. Das Gesetz wurde nie realisiert, weswegen die Zuständigkeit durch eine Reihe von Partei- und Verwaltungseinheiten, manchmal auch konkurrierend, wahrgenommen wurde: Stadtverwaltungen, öffentliche und private Fürsorge, Gesundheitsämter, Erbgesundheitsgerichte, Arbeitsämter, Gauverwaltung, NSDAP, Polizei usw.

Asozialität

Die Definition von Asozialität in den Rechtsbehelfen war ebenso vage wie weitreichend, was die Radikalisierung der Verfolgung von sozialen Randgruppen erheblich erleichterte. 

Die Definition von Asozialität in den Rechtsbehelfen war ebenso vage wie weitreichend, was die Radikalisierung der Verfolgung von sozialen Randgruppen erheblich erleichterte. Als gemeinschaftsfremd galt ein Mensch, wenn er „sich nach Persönlichkeit und Lebensführung, insbesondere außergewöhnlicher Mängel des Verstandes oder des Charakters außerstande zeigt, aus eigener Kraft den Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft zu genügen“, wiederholt in Konflikt mit dem Gesetz gekommen und damit ein „Querulant“ war, keinem regelmäßigen Erwerb nachging und deswegen als „arbeitsscheu“ charakterisiert werden konnte, laufend öffentliche Fürsorge bezog, keinen geordnete Haushalt führte, sich einem unsittlichen Lebenswandel hingab, alkoholkrank war, eine „Neigung zum Betteln oder Landstreichen, zu Arbeitsbummelei, Diebereien, Betrügereien“ aufwies oder „aus Unverträglichkeit oder Streitlust den Frieden der Gemeinschaft hartnäckig störte“.

Zur Zeit des Anschlusses vollzog sich eine Wende in der nationalsozialistischen Asozialen-Verfolgung: die bisherigen Sanktionen gegen unerwünschte Fürsorgeempfänger durch kommunale Einrichtungen wurde nun abgelöst durch polizeiliche Verfolgung und Zwangsinternierungen. Das Inkrafttreten des reichsdeutschen Fürsorgerechts – die lokalen Behörden warteten das offizielle Inkrafttreten mit 3. September 1938 in der Regel nicht ab, sondern handelten schon vorher danach – brachte auch eine Umstellung der Zuständigkeiten in der Fürsorgepolitik mit sich. Nicht wie bisher die Heimatgemeinde, sondern die Aufenthaltsgemeinde war nun zuständig.

Aktive und passive Verfolgungsstrategien
Die Asozialen-Politik der Gaufürsorge in Oberdonau lässt sich in aktive und passive Verfolgungsstrategien einteilen. In den Bereich der passiven Maßnahmen fällt etwa die Minderversorgung „Gemeinschaftsfremder“. So wurden die Fürsorgeleistungen für „anlagebedingte und nicht besserungsfähige Asoziale“ um etwa 20 % gekürzt, während die bedürftigen „wertvollen Mitglieder der Volksgemeinschaft“ großzügig unterstützt wurden. Diese erhielten neben der Fürsorgeunterstützung auch noch Leistungen der NS-Volkswohlfahrt, des Winterhilfswerks und der Deutschen Arbeitsfront. Effektivstes Instrument der aktiven Maßnahmen in der Asozialen-Verfolgung war der Arbeitszwang. Funktionäre der NSDAP und parteinaher Organisationen – allen voran der Deutschen Arbeitsfront – sowie Fürsorgebeamte sahen es als ihre Pflicht, jede Arbeitskraft zu mobilisieren, um dem allgemein herrschenden Arbeitskräftemangel zu begegnen. Die Bezirksfürsorgeverbände hatten einen Antrag auf Arbeitszwang eines Fürsorgebeziehers beim Landrat einzubringen, der dann die Betroffenen aufforderte, sich beim Arbeitsamt zu melden.
In Oberdonau wollte man durch die Zwangsarbeit eine vollständige Verbannung Asozialer und Arbeitsscheuer aus der Gesellschaft erreichen, selbst wenn diese keine Fürsorge bezogen. Damit wurden die Grenzen des Fürsorgerechts weit überschritten. So empfahlen die Fürsorgebeamten des Gaufürsorgeamtes (Fürsorgeaufsicht) eine polizeiliche Vorbeugungshaft gegen Asoziale, unabhängig davon, ob sie Fürsorge bezogen.

Lager Weyer
Reichsstatthalter Eigruber selbst förderte bereits im Mai 1938, gesetzwidrig und ohne die Zustimmung der Berliner Zentralbehörden, die Errichtung eines von der Deutschen Arbeitsfront zu betreibenden Arbeitserziehungslagers in der Ortschaft Weyer (Braunau), das im Juni seinen Betrieb aufnahm. Damit legte er originär staatliche Befugnisse in die Hände der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront. Außerdem konnten Arbeitsscheue präventiv ins Lager eingewiesen werden, auch wenn sie in einem geregelten Arbeitsverhältnis standen. Das öffnete der willkürlichen Einweisung von regimekritischen Menschen wegen angeblicher Arbeitsverweigerung oder ungenügender Arbeitsleistung Tür und Tor. Von dieser Möglichkeit machten in den folgenden Monaten viele Landräte Gebrauch. Mit einem Erlass im Oktober 1940 segnete das Reichsministerium des Inneren die vorbeugenden Zwangseinweisungen auch regelmäßig erwerbstätiger Personen reichseinheitlich ab und begründete dies mit der „Verhütung drohender Hilfsbedürftigkeit“. Trotzdem entbehrte das Lager in Weyer einer rechtlichen Grundlage. Ermittlungen des Reichsinnenministeriums und Erhebungen der Staatsanwaltschaft Ried im Zuge von Misshandlungsanzeigen kam Eigruber mit der Auflösung des Lagers im Jänner 1941 zuvor.

Doch die Fürsorgebeamten in Oberdonau ließen nicht locker. Sie drängten weiterhin auf die Verschärfung der rechtlichen Handhabe, um die Asozialen-Verfolgung durch die Fürsorge auf eine stärkere Grundlage zu stellen. So wandte sich Alfred Lippe-Weißenfeld, der Leiter des Gaufürsorgeamtes in Oberdonau, im März 1942 an das Reichsinnenministerium mit der Bitte, die zwangsweise Verbringung von Arbeitsscheuen in Anstalten rechtlich zu erleichtern. Der Innenminister vertröstete ihn mit dem Hinweis auf das Gemeinschaftsfremden-Gesetz, das zu diesem Zeitpunkt vorbereitet wurde.

Erziehungslager für Arbeitsunwillige in Traunkirchen
Gleichzeitig zum Lager Weyer entstand ein Erziehungslager für Arbeitsunwillige in Traunkirchen. Nach der Auflösung von Weyer wurden bis Ende April 1942 als Ersatz zwei Abteilungen der Heil- und Fürsorgeanstalt Niedernhart für die Unterbringung von Asozialen bestimmt. Danach waren die Fürsorgebehörden auf Institutionen der Nachbargaue angewiesen bzw. stellte auch die Verwahrung in Einrichtungen der Gestapo eine Alternative dar. Mit der Gestapo verband die staatliche Fürsorgeverwaltung eine enge Kooperation. Arbeitsverweigerer mussten der Polizei gemeldet werden, von der sie den Arbeitsämtern vorgeführt wurden. In extremen Fällen konnte die Gestapo sofort Schutzhaft verhängen oder die Weitergabe in ein Arbeitserziehungslager einleiten.

Da es keine genaue rechtliche Definition von Asozialität gab, kam den unteren Ebenen von Verwaltung, Partei und Exekutive faktisch Entscheidungsgewalt über die Einweisung in ein Arbeitslager zu. Formalrechtlich lag diese zwar beim Gaufürsorgeamt, in der Praxis jedoch blieben die Angaben der Bürgermeister, Kreisinspektoren, Fürsorgerinnen oder Gendarmen über die vermeintliche Asozialität ungeprüft. Überdurchschnittlicher Alkoholkonsum, häufige abendliche Aufenthalte in Gaststätten, sexuelle „Liederlichkeit“, ungeordnetes Wirtschaften, Konflikte mit dem Gesetz, unregelmäßiges Erwerbsleben, vermutete Regimekritik durch Fernbleiben von NS-Vereinen oder Spendenunwilligkeit waren nicht selten die entscheidenden Indikatoren von Asozialität in den oftmals gehässigen und von persönlichen Aversionen geprägten Anzeigen der Berichterstatter an die Fürsorgeverwaltung.

In Linz plante man eine eigene Asozialen-Wohnsiedlung mit angeschlossenem Arbeitszwangslager nach dem Muster der Wohnungsfürsorgeanstalt der Stadt Bremen, in der Asoziale differenziert behandelt wurden und besserungsfähige Asoziale wieder in die Volksgemeinschaft integriert werden sollten. Das Linzer Projekt wurde jedoch nie realisiert.

Wanderarbeiter
Der Kampf gegen die Asozialen erfasste auch Menschen ohne festen Wohnsitz, etwa Wanderarbeiter. Um das Problem des „Wanderer- und Herbergenwesens“ in den Griff zu bekommen, regte das Gaufürsorgeamt 1941 die Erstellung einer Wanderer-Warnkartei für notorische Unterstützungswerber an. Ziel war es, diese Personen aus dem Bereich der Fürsorgeunterstützung zu entfernen. Die Wanderherbergen wurden großteils aufgelöst, die Insassen dem Fürsorgeamt und in weiterer Folge einem Arbeitsamt überstellt, das ihnen in der Regel sofort Arbeit zuwies bzw. sie dienstverpflichtete. Die von den Wanderherbergen geführten Wanderbücher wurden vom Gaufürsorgeamt eingezogen. Auf dieser Basis wurde die Warnkartei erstellt und in Kopie an alle Bezirksfürsorgeämter übersandt, um den vermeintlichen Missbrauch von Fürsorgeleistungen einzudämmen.

Autoren: Josef Goldberger und Cornelia Sulzbacher

Aus: Goldberger, Josef - Cornelia Sulzbacher: Oberdonau. Hrsg.: Oberösterreichisches Landesarchiv (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 11).- Linz 2008, 256 S. [Abschlussband zum gleichnamigen Forschungsprojekt des Oberösterreichischen Landesarchivs 2002-2008.]