Industriegründungen der Nationalsozialisten

Sonderfall Oberösterreich? – Industriegründungen der Nationalsozialisten in Oberösterreich


Ist Oberösterreich durch die Gründungen der Nationalsozialisten zum Industrieland geworden? Der äußere Anschein mag dafürsprechen. Die bekanntesten oberösterreichischen Industriebetriebe – die VOEST, die Lenzing AG, die Aluminiumwerke Ranshofen, die Chemie Linz oder die Kugellagerwerke in Steyr – gehen auf damalige Gründungen zurück.

War Oberösterreich, als es Oberdonau hieß, ein „Sonderfall“? Oberösterreich stilisierte sich zum „Heimatgau des Führers“. Linz war „Heimatstadt und Patenstadt“ des Führers und rückte in den Rang einer der fünf Führerstädte des Reiches auf. Wels wurde zur „Stadt der Bewegung“ und „Patenstadt von Hermann Göring“. Steyr, die bis dahin bedeutendste Industriestadt des Landes, sollte als „Industriekraftfeld“, Rüstungszentrum und Heimatstadt des Gauleiters August Eigruber entsprechend aufgewertet werden. Auch Braunau als Hitlers Geburtsort war hervorgehoben, ebenso wie Leonding, wo seine Eltern begraben waren.

Viele Fragen
Wurde Oberösterreich von der nationalsozialistischen Industrieansiedlungspolitik bevorzugter behandelt als andere Regionen? War die NS-Lastigkeit in Oberösterreich stärker als anderswo? Wurde die „Arisierung“ in Oberösterreich besonders „effizient“ und rasch durchgeführt? War Oberösterreich das Zentrum der Konzentrationslager und Euthanasieanstalten? War die NS-Justiz in Oberösterreich höriger und blindwütiger als anderswo? Gab es ein besonderes oberösterreichisches Modell der Zwangsabtreibung bei Zwangsarbeiterinnen und in der Behandlung „fremdvölkischer“ Kinder? War Oberdonau in seiner Annexionspolitik gegenüber Tschechien besonders expansionistisch und imperialistisch? War die Korruption stärker als in anderen Gauen? War schließlich die Kunstpolitik mit dem „Führermuseum“ und den Ausbauplänen für Linz oder St. Florian gigantischer als sonst im Dritten Reich?

Industrielle Tradition
Oberösterreichs Industrie war vor 1938 keineswegs so unbedeutend und veraltet, wie dies in der zeitgenössischen Propaganda behauptet wurde. Es gab in Oberösterreich eine lange industrielle Tradition und einige Jahre vor dem „Anschluss“ einen durchaus merkbaren wirtschaftlichen Aufwärtstrend. Die Papierfabrik Lenzing war zu einer der modernsten Zellstofffabriken Europas ausgebaut worden. In den Steyr-Werken schien man ab 1935 mit mehreren neuen Automodellen, insbesondere dem zukunftsweisenden Steyr-Baby - einem in Aussehen und Konstruktion als Vorläufer des Volkswagens erkennbaren Modell - wieder Fuß gefasst zu haben.
Die oberösterreichische Industrie beschäftigte 1937 um 30 % mehr Arbeitnehmer als 1934. Der Aufschwung, der in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in Österreich eingesetzt hatte, hatte zwar die Arbeitslosigkeit nicht so rasch wie in Deutschland beseitigen können, versprach dafür aber eine viel stabilere und langfristige Perspektive, weil er nicht von derart überzogenen Budgetdefiziten gespeist war.

Unmittelbar nach dem „Anschluss“ begann der wirtschaftliche Umbau des Landes. Durch den Aufbau großer Grundstoffindustrien (Stahl, Chemie, Aluminium, Zellstoff) wurde zwar nicht die Industrialisierung des Landes ausgelöst, aber die Branchenstruktur in Richtung Grundstoffindustrie, Großbetriebe und Staatswirtschaft massiv verändert. 1937 arbeiteten 30,3 % der Industriebeschäftigten Oberösterreichs in Betrieben mit mehr als 1000 Beschäftigten, 1943 hingegen bereits 65,4 %.
Während die Großprojekte enorme Investitionssummen banden, waren für die Modernisierung und Rationalisierung der Klein- und Mittelbetriebe auch vergleichsweise kleine Summen nicht aufzubringen. Die große Staatsnachfrage führte zu Fehlallokationen (Allokation = Zuordnung von beschränkten Ressourcen) und verursachte Verdrängungseffekte im privaten Sektor und im Finalgüterbereich.

„Geld spielt keine Rolle“
Die Großinvestitionen kumulierten in einem zunehmend repressiver werdenden Zwangssystem und kippten immer mehr in Wahn und Realitätsverlust um, sowohl in der gigantesken Übersteigerung der Projekte wie auch in der Hoffnung auf Wunder aller Art. „Geld spielt keine Rolle“, war der Wahlspruch Hans Kehrls, anknüpfend an Hermann Göring, der schon 1936 verkündet hatte: „Wenn wir morgen Krieg haben, müssen wir durch Ersatzstoffe uns helfen. Dann wird Geld keine Rolle spielen.“
Die Erfolge, die durch die extreme Defizitpolitik erzielt wurden, erschienen für den Augenblick beeindruckend. Die Logik der nationalsozialistischen Beschäftigungspolitik war simpel: Nicht mehr eine entsprechende Sparsamkeit in den öffentlichen Haushalten, sondern eine ungezügelte Ausweitung der Budgets bestimmte die Denkweise. Eine solche alle Kosten- und Rentabilitätsgesichtspunkte vernachlässigende Beschäftigungspolitik hat allerdings immer Grenzen, die umso unüberwindbarer werden, je überzogener die dahinterstehende Politik ist. Dass diese Grenzen im Dritten Reich nicht sichtbar wurden, lag nicht nur an der kurzen Dauer des Regimes oder an der beginnenden Kriegswirtschaft, sondern auch am diktatorischen, imperialistischen und rassistischen Charakter des Systems. Alle Projekte konnten rasch begonnen werden, weil das Zwangsregime ohne demokratische Rücksichtnahme Boden und Gebäude enteignen, Menschen zur Arbeit zwingen und die gesamte Bevölkerung zum Zwangssparen verpflichten konnte. Die Kosten dachte man den rassisch ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen und eroberten Regionen aufzulasten.

Die großen NS-Gründungen
„Stickstoffwerke Ostmark“: Die Entscheidung, eine ursprünglich für Bayern geplante Anlage der „IG Farben“ zur Stickstoffgewinnung in Linz anzusiedeln, stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Errichtung der Eisenhütte und dem dabei anfallenden Kokereigas. Für die Erzeugung von Stickstoffdünger war in Österreich zuvor keine Produktionsanlage vorhanden gewesen. Im Rahmen des „Pulver-Schnellplans“ sollte in Linz allerdings vor allem Stickstoff für Sprengstoff erzeugt werden.
Aluminiumwerke Ranshofen (Mattigwerk): Die Errichtung eines Aluminiumwerkes in Ranshofen/Braunau als Gründung der Aluminiumwerke Berlin hatte auch wehrwirtschaftliche Hintergründe. Der Standort wurde aufgrund der Bahnhnähe, des Energieangebots der geplanten Innkraftwerke und des Arbeitskräfteangebots im noch wenig industrialisierten Innviertel gewählt. Entscheidet bei der Standortwahl war aber auch das billige, da „arisierte“ Betriebsareal in dem Wertheimschen Forstbetrieb. Der Bau wurde gegen erheblichen Widerstand der Naturschützer durchgezogen. Nicht zuletzt sollte die Gründung auch eine Reverenz an Hitlers Geburtsstadt Braunau sein. 1944 war das „Mattigwerk“ in Ranshofen der größte Aluminiumproduzent Deutschlands und stellte mit etwa 33.000 t etwa 20 % der deutschen Erzeugung.
Kugellagerwerk Steyr/SDPAG: Im bis dahin größten Industrieunternehmen Oberösterreichs, der Steyr-Daimler-Puch-AG, wurde die Fabrikation auf den militärischen Bedarf umgestellt. 1939 erfolgte die Grundsteinlegung für das Wälzlagerwerk in Steyr-Münichholz. Waren unmittelbar vor dem Anschluss etwa 7000 Personen bei der SDPAG beschäftigt, so stieg diese Zahl bis 1944 auf ca. 50.000.
Die Investitionssummen:
Das gesamte von der Lenzing AG von Juni 1938 bis 31. Dezember 1944 getätigte Investitionsvolumen wurde mit rund 92 Mio. RM errechnet. In den Linzer Hermann-Göring-Werken wurden zwischen 1938 und 1944 etwa 600 Mio. RM investiert, in den Stickstoffwerken etwa 60 bis 80 Millionen. Die gesamten Baukosten in Ranshofen beliefen sich auf 130 Mio. RM. Die Direktinvestitionen der SDPAG betrugen zwischen 1938 und 1944 ca. 328 Mio. RM.
Die Manager
Dr. Georg Meindl (1899–1945): Tätigkeiten bei Stern & Hafferl, Direktor der ÖKA und von 1934 bis 1936 auch Abgeordneter im ständestaatlichen oberösterreichischen Landtag; von 1936 bis 1938 war er Vorstandsmitglied der Österreichisch-Alpine-Montan-Gesellschaft, von 1938 bis 1945 Vorstandsvorsitzender der SDPAG und damit des größten Industriebetriebes des Landes. Er war SS- Gruppenführer; Meindl starb unter mysteriösen Umständen im Mai 1945.
Dr. Walther Schieber (1896–1960): geb. in Beimerstetten/ Württemberg; 1935 Aufbauleiter im Zellwollewerk Schwarza/ Saale, 1939 bis 1944 dort Vorstandsvorsitzender, gleichzeitig von 1938 bis 1945 auch Generaldirektor in Lenzing; SS-Brigadeführer; von Februar 1942 bis November 1944 war Schieber Chef des Rüstungslieferamts im Reichsministerium für Bewaffnung und Munition und damit einer der Stellvertreter des Rüstungsministers Albert Speer. 1946 bis 1956 arbeitete Schieber für die Amerikaner in der Giftgasforschung; Schieber starb 1960 in Würzburg.
Dr. Hans Malzacher (1896–1974): Ende 1937 Generaldirektor der Österreichisch-Alpine-Montangesellschaft, von 1938 bis 1941 Stellvertreter Paul Pleigers in den Hermann-Göring-Werken und gleichzeitig dessen Intimfeind, 1942 bis 1944 Generaldirektor der Berg - und Hüttenwerksgesellschaft in Teschen, 1945 Präsident des Skodakonzerns; nach dem Zusammenbruch von 25. Juni bis 15. Oktober 1945 Generaldirektor der VOEST und der Stickstoffwerke, dann bis 1947 interniert. Ab 1948 leitete er seinen Familienbetrieb und arbeitete als Industrieberater.

Man kann mehrere Schübe von Industrieneugründungen unterscheiden: einen ersten Schub unmittelbar nach dem „Anschluss“, dann 1941/42 mit dem Übergang zur Großraumwirtschaft im Osten und schließlich 1944 im totalen Bombenkrieg, als zahlreiche Rüstungsbetriebe wegen der vor alliierten Luftangriffen lange geschützten und deshalb auch als „Reichsluftschutzkeller“ apostrophierten Lage hierher transferiert wurden.

Die Zerstörungen in der Endphase des Krieges waren in Oberösterreich viel geringer ausgefallen als in Ostösterreich. Der überwiegende Teil der Industriebetriebe blieb von Bombenangriffen verschont. Auch von direkten Kampfhandlungen und von wirtschaftlichen Eingriffen der Besatzungsmächte, vor allem Demontierungen, war das Land sehr wenig betroffen. Die sowjetische Besatzungsmacht demontierte zwar, solange das oberösterreichische Gebiet östlich der Enns zur russischen Besatzungszone zählte, einen wesentlichen Teil der Maschinen im Steyr-Hauptwerk und im Wälzlagerwerk. Aber im sowjetisch besetzten Mühlviertel gab es wenig zu holen.

Aufschwung nach dem Weltkrieg
So konnte der Nachkriegsaufschwung in Oberösterreich leichter anspringen als in Ostösterreich. Die „kapitalistischen“ Amerikaner übten auch eine Sogwirkung aus. Im Gegensatz zu Niederösterreich, wo viele der Kriegsgründungen nach dem Kriege nahezu spurlos untergingen, konnten sich in Oberösterreich die im Kriege entstandenen Großbetriebe - zwar nach großen Übergangsschwierigkeiten - zu dauerhaften Kristallisationskernen industrieller Dynamik entwickeln.

Die Gründungswelle von 1946 bis 1952 wurde zur wichtigsten Phase in der Industrialisierungsgeschichte Oberösterreichs. Insgesamt sind in den siebeneinhalb Jahren von Mai 1945 bis Dezember 1952 in Oberösterreich 211 Industriebetriebe neu entstanden und 50 aus dem Gewerbe zur Industrie aufgerückt, fast dreimal so viel wie durch die Gründungen und Verlagerungen in den sieben Jahren der NS-Herrschaft. Oberösterreich wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht deswegen reich, weil es den Nationalsozialismus gegeben hat, sondern obwohl es ihn gegeben hat.

Industriebetriebe Industriebeschäftigte
1938 396 33.558
1942 360 65.928
1944 77.224
1945 478 33.384
1946 548 49.952
1955 648 93.288
1964 770 112.517

Autor: Roman Sandgruber

Oberösterreichische Nachrichten, 17. Oktober 2009