Geschichte der Mediävistik

Erinnerungskulturen
Politisches Handeln in der Geschichte bedient sich stets der Vergangenheit, gerade auch des Mittelalters. Der Rückgriff auf die eigenen Ursprünge konnte als Legitimation (Rechtfertigung) für die Herrschaft der eigenen Dynastie dienen oder Erbansprüche „begründen“. Klöster und andere Institutionen sammelten die sie betreffenden Urkunden, um im Falle von Besitzstreitigkeiten Beweismittel auf ihrer Seite zu haben. Städte sahen schon bald eigene Orte für die Aufbewahrung der verliehenen Privilegien vor. Häufig wurden diese Urkunden in späterer Zeit in Büchern zusammengefasst, etwa in den so genannten Traditionsbüchern der Klöster, in denen die Schenkungen (Traditionen) an das Kloster bzw. den Schutzheiligen desselben enthalten waren. Die Erinnerung an die eigene Vergangenheit konnte aber auch rein der Vergegenwärtigung wichtiger Einschnitte in der eigenen Geschichte, wie Elementarereignisse, dienen.

Herausbildung der historischen Hilfswissenschaften

Im 17. Jahrhundert trat eine Verwissenschaftlichung im Umgang mit dem Mittelalter ein, die auch zur Herausbildung von zwei der wichtigsten historischen Hilfswissenschaften führte: der Paläografie (Schriftenkunde) und der Diplomatik (Urkundenlehre).

Paläografie
Unter Paläografie (von griech. palaios/παλαιός = alt und graphein/γράφειν = schreiben) versteht man die Lehre von den alten Schriften. Dabei geht es insbesondere um ihre räumliche und zeitliche Bestimmung, aber auch ganz allgemein um das Lesenkönnen der alten Schriften. Die Paläografie soll somit an das Verständnis und an die Geschichte der Schrift heranführen. Weiters untersucht die Paläografie, wie die alten Schriften voneinander abhängig sind. In neuerer Zeit rückten aber auch die Physiologie und Psychologie des Schreibens in den Mittelpunkt des Interesses, ebenso das soziale Umfeld.

Die Anfänge der modernen Paläografie liegen in einem von der Gegenreformation beeinflussten Wissenschaftsstreit des 17. Jahrhunderts. In der Auseinandersetzung um die Authentizität von mittelalterlichen Heiligenviten zwischen den besonders kritischen Jesuiten um Jean Bolland (die „Bollandisten“) und der Reformbenediktiner-Kongregation von Saint-Maur (die „Mauriner“) taten sich vor allem zwei Wissenschaftler mit ihren für die Ausbildung der historischen Hilfswissenschaften bahnbrechenden Arbeiten hervor: der Bollandist Daniel Papebroch (Papenbroeck, 1628-1714) und der Mauriner Jean Mabillon (1632-1707). Der in Antwerpen tätige Papebroch zweifelte in seinem Hauptwerk Propylaeum antiquarium die Echtheit vieler Urkunden und Heiligenviten an. Gefordert sei das discrimen veri et falsi, die Unterscheidung von echten und gefälschten Quellen. Papebroch wandte dabei schon paläografische Methoden an, ohne jedoch Schriften auch lokalisieren zu können.

Die Kritik Papebroeks traf vor allem die Benediktinerklöster, deren Reform sich die 1618 gegründete Maurinerkongregation vorgenommen hatte. Diese baute zudem in Saint-Germain-des-Prés bei Paris eine Art Akademie auf. Dort nahm sich Jean Mabillon der Widerlegung von Papebrochs Thesen an. Mit seinem sechsbändigen Werk De re diplomatica begründete er nicht nur die Diplomatik (Urkundenlehre), sondern suchte auch um eine theoretische Durchdringung der Lehre von den alten Schriften. Im Jahr 1708 veröffentlichte der Mauriner Bernard de Montfaucon (1655-1714) ein Lehrbuch zu den alten griechischen Schriften unter dem Titel Palaeographia graeca und gab damit der jungen Disziplin ihren heutigen Namen. Er begann auch, Kataloge von Handschriftenbibliotheken anzulegen, ein Unterfangen, das in ganz Europa Nachfolger fand.

Im 19. Jahrhundert teilten sich schließlich Paläografie und Diplomatik endgültig. Die Paläografie in Frankreich erhielt schon bald durch die Gründung der École des Chartes in Paris (1821) eine Ausbildungs- und Forschungsstätte, die vornehmlich zur Instruktion von Archivaren und Bibliothekaren gedacht war. In Österreich wurde 1854 nach dem Vorbild der École des Chartes das Institut für Österreichische Geschichtsforschung gegründet, das ebenfalls die Ausbildung von Archivaren und Bibliothekaren zum Ziel hat. Besonders vom Münchener Lehrstuhl für lateinische Philologie des Mittelalters gingen seit dem frühen 20. Jahrhundert wichtige Impulse für die Paläografie aus: Zunächst betonte der schon in jungen Jahren verstorbene Ludwig Traube (1861-1907) die Bedeutung der Handschriftenkunde für die Paläografie. Sein Schüler und Nachfolger Paul Lehmann setzte diese Tradition fort. Schließlich veröffentlichte Bernhard Bischoff (1906-1991) zahlreiche Werke zur Schriftgeschichte der vorkarolingischen und karolingischen Zeit und konnte seinerseits einen großen Schülerkreis begründen.

Diplomatik
Auch die Diplomatik (von griech. diploma/διπλῶμα = Urkunde, Urkundenlehre) entstand wie die Paläografie im 17. Jahrhundert aus dem Streit nach der Echtheit von Rechtsansprüchen. Neben den zahllosen Heiligenviten, die vielen Klöstern und Kirchen als Legitimation für Wallfahrten oder Ablässe dienten, waren es vor allem Urkunden, auf denen Erb- und Besitzansprüche aufgebaut wurden. So mussten die so genannten Kabinettskriege im Zeitalter des Absolutismus (17. und frühes 18. Jahrhundert) im engsten Beraterstab des Herrschers – insbesondere Ludwigs XIV. von Frankreich – erst „legitimiert“ werden, indem man auf der Basis alter Dokumente die „Gründe“ für den Krieg konstruierte.

Die Diplomatik wurde v. a. seit dem 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum forciert, als man in vielen Kreisen melancholisch auf das Mittelalter und das 1806 zu Ende gegangene Heilige Römischen Reiches Deutscher Nation zurückblickte. So kam es zur Gründung von Gesellschaften, die sich vor allem dem Aufsuchen und der Edition historischer Quellen (v. a. erzählender Quellen, Urkunden) widmeten. Die bedeutendste dieser Unternehmungen sind Monumenta Germaniae Historica (MGH), gegründet 1819 von Freiherr vom und zum Stein, die bis heute die wichtigste Editionsreihe für Urkunden, weitere Rechtsquellen und erzählende Quellen darstellen. Johann Friedrich Böhmer hingegen versuchte in seinen Regesta Imperii die Vielzahl an schriftlichen Quellen mit inhaltlichen Zusammenfassungen (Regesten) der Quellen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reiches zu bewältigen. Durch die besondere Rolle der deutschen Mediävistik im 19. Jahrhundert kommt es auch, dass bis heute viele deutschsprachige Fachausdrücke internationale Gültigkeit besitzen, z. B. „Hilfswissenschaften“.

Die Abgrenzung zwischen der Diplomatik und der Aktenkunde ist oft fließend. Allerdings versteht man unter Akten die Produkte des gesamten Verwaltungsprozesses, an dessen Ende schließlich eine Urkunde stehen kann. Diese Akten sind vor allem für die Neuzeit erhalten, im Mittelalter jedoch selten. Vorformen dazu sind z. B. die Register, die zunächst in der päpstlichen Kanzlei, ab dem 13./14. Jahrhundert auch in vielen landesfürstlichen Kanzleien über aus- und/oder einlaufende Schriftstücke geführt wurden.

Moderne Trends in der Mittelalterforschung
Lange Zeit war die Mittelalterforschung auf der Basis der historischen Hilfswissenschaften konservativ auf die Geschichte der herrschenden Schichten – der Regenten, des Adels und der Kirche – konzentriert. Schwerpunkte lagen auf der Verfassungsgeschichte sowie der allgemeinen politischen Geschichte und der Kirchengeschichte, während der Alltag des gemeinen Volkes nur wenig Beachtung fand. Auch wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen nahmen nur eine untergeordnete Rolle ein. Zudem erschöpften sich die Forschungen oft rein in der Herausgabe (Edition) von handschriftlich verfassten Texten aus dem Mittelalter.

Besonders seit den 1970er Jahren haben sich die Untersuchungsgegenstände deutlich ausgeweitet: Der Alltag der Bauern, Unterschichten und Randgruppen wurde ebenso zu einem zentralen Forschungsfeld wie die Geschichte der Frauen und Kinder. Bildquellen und archäologische Ergebnisse ergänzen bei vielen Fragestellungen die schriftlichen Überlieferungen. Im Bereich der Umwelt- und Klimageschichte erfolgt eine enge Zusammenarbeit mit naturwissenschaftlichen Disziplinen, wenn es um die Rekonstruktion von extremen Naturereignissen, Klimaverläufen oder Vegetationsentwicklungen geht. Bei der Beschäftigung mit der Geschichte der herrschenden Schichten dominieren neue Zugänge, etwa die Kommunikationsgeschichte oder die Repräsentationsforschung.

Autor: Christian Rohr, 2009