10. Jahrhundert

Oberösterreich im Frühmittelalter

10. Jahrhundert


Der Ungarnsturm und die Folgen – die Babenberger
Im Laufe des späten 9. Jahrhunderts drang das aus Ostasien kommende Volk der Magyaren, die Vorläufer der Ungarn, immer weiter nach Westen vor. Im Jahr 888 erreichten sie Wien, im Jahr 900 stießen sie über die Enns vor; sie verwüsteten unter anderem auch den Traungau, doch wurden sie von einem fränkischen Heer bei Linz (?) zurückgeschlagen. Als ein von den wichtigsten baierischen Würdenträgern angeführtes Heer im Jahr 907 in die Offensive ging, wurde es von den Ungarn bei Pressburg/Bratislava schwer geschlagen – der Großteil der baierischen Oberschicht, darunter auch der Erzbischof von Salzburg sowie die Bischöfe von Freising und Säben (Südtirol), kam damals um.

Die Gefahr der Ungarn wurde immer größer: 943 kam es bei Wels zur Schlacht zwischen Baiern und Ungarn, bei dem sich der baierische Markgraf Berthold jedoch militärisch durchsetzen konnte. 950 stieß der baierische Herzog Heinrich bis zur Ennsburg nach Osten vor und nahm diese in Besitz, ein Umstand, der darauf hindeutet, dass damals das östliche Oberösterreich im Einflussgebiet der Ungarn lag. Schließlich überrannten die Ungarn im Jahr 955 Oberösterreich und Bayern und wurden erst auf dem Lechfeld bei Augsburg von König Otto I. vernichtend geschlagen. Langsam wurde in den nächsten Jahrzehnten die Ennsgrenze zwischen Bayern bzw. dem Ostfrankenreich und den Ungarn nach Osten verschoben. Freilich hinterließen die Ungarneinfälle eine Spur der Verwüstung, deren Ausmaße noch nicht restlos erforscht sind. Vermutlich wurde auch die Martinskirche in Linz in dieser Zeit zerstört und erst im 11. Jahrhundert wieder aufgebaut. Als Grenzfestung wurde nach 955, als die Ungarn endgültig besiegt und ins östliche Niederösterreich abgedrängt worden waren, unter anderem die Ennsburg, die Keimzelle der späteren Stadt Enns, wiedererrichtet und stärker befestigt. Mit der Verwaltung der zurückeroberten Gebiete im niederösterreichischen Alpenvorland wurden 976 die Babenberger als Markgrafen betraut; 996 wurde der Bereich des niederösterreichischen Mostviertels in einer Urkunde für das baierische Bistum Freising erstmals Ostarrichi, Österreich, genannt.

Wirtschaftliches Leben am Beginn des 10. Jahrhunderts – die Zollordnung von Raffelstetten
Obwohl die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts durch die Einfälle der Ungarn allgemein als unruhige Zeit gilt, wurde der Handel an der oberösterreichischen und niederösterreichischen Donau offenbar weiterhin intensiv betrieben. Zahlreiche baierische Klöster – darunter fielen damals auch diejenigen im heutigen Oberösterreich und Salzburg – besaßen Weingärten in der Wachau, da sie für liturgische Zwecke einen hohen Bedarf an Wein hatten. Teilweise gingen diese Besitzungen im Zuge des Ungarnsturms freilich verloren; Salzburg und dem Grenzgrafen Aribo etwa wurden 909 zum Ausgleich für ihre Verluste in Niederösterreich mit der „Abtei Traunsee“ belehnt, deren Lage vermutlich im Ortsgebiet von Altmünster zu suchen ist. Mit der Belehnung wurden zwar auch die auf dem Besitz wohnenden Eigenleute übergeben, nicht aber eine Mönchsgemeinschaft. Es liegt daher der Schluss nahe, dass die Abtei im Jahre 909 schon unbewohnt und wohl bereits säkularisiert war. Vielleicht wurde das Kloster schon im Zuge des Ungarneinfalles im Jahr 900 schwer in Mitleidenschaft gezogen.

In Raffelstetten, heute im Gemeindegebiet von Asten bei Linz, fand um das Jahr 904/906 ein Zollweistum statt. Darunter versteht man das Zusammenkommen kompetenter Personen, d. h. eines Weisenrates, der strittige Fragen beraten und klären sollte. Es ging damals um Unklarheiten über Mauten an der Donau. Dieses Zollweistum, auch Zollordnung von Raffelstetten genannt, ist heute in einer Abschrift aus dem 13. Jahrhundert erhalten. Darin sind „Rosdorf“ (vermutlich gegenüber von Aschach gelegen) und Linz als Mautstellen erwähnt, weiters wird allgemein über die Handelswege und -güter der damaligen Zeit – v. a. Salz, aber auch Sklaven – berichtet. Als wichtigste Gruppe von Kaufleuten werden die Juden bezeichnet. Die Zollstelle in Linz lag vermutlich im Bereich des Hofbergs, der Markt zog sich wahrscheinlich vom Hofberg über die Altstadt bis zur Herrenstraße.

Herrschaftsverhältnisse im heutigen Oberösterreich
Ab 930 sind im heutigen Oberösterreich (Mark-)Grafen nachweisbar, die in den unruhigen Zeiten für die Verwaltung kleinerer Gebietseinheiten (Gaue) zuständig waren:

Im Traungau regierte 930 ein Graf Meginhard, der als der erste nachweisbare Vertreter aus dem später sehr mächtigen Geschlecht der Wels-Lambacher sein könnte. Der erste gesicherte Vertreter aus diesem Geschlecht war Graf Arnold, der 993 erstmals bezeugt ist und zu dieser Zeit schon auf umfangreichen Besitz im Salzkammergut, im Hausruckviertel und im Großraum Wels zurückgreifen konnte. Der äußerste Osten Oberösterreichs lag ab 976 im erweiterten Einflussbereich des Markgrafen Leopold I. aus dem Hause der Babenberger, deren Herrschaftsmittelpunkt aber zunächst im niederösterreichischen Mostviertel und später in der Wachau lag – im späteren Ostarrichi. Vielleicht war Enns sogar die erste Pfalz der Babenberger in Österreich.

Besser greifbar sind Besitzschenkungen und -bestätigungen an das Erzbistum Salzburg und an das Bistum Passau: So bestätigte König Otto II. 977 die Salzburger Besitzungen im Atter- und Mattiggau. Schon 975 hatte Otto II. dem Passauer Bischof Pilgrim urkundlich zugesichert, dass das Kloster Kremsmünster ein Eigengut des Passauer Bischofs sei, 976 erfolgte die Bestätigung des Besitzes von St. Florian an denselben. 977 schenkte der König die Ennsburg an Bischof Pilgrim; damit verbunden waren auch zehn Königshufen bei Lorch. Um 985/991 ließ Bischof Pilgrim bei einer Zusammenkunft in Mistelbach erheben, welche Zehentrechte das Passauer Bistum in Oberösterreich habe; in diesem Zusammenhang wurde auch erstmals die Styraburg (Steyr) erwähnt.

Pilgrim von Passau (971-991)

Bischof Pilgrim von Passau gehört wohl zu den schillerndsten Persönlichkeiten des ausgehenden 10. Jahrhunderts. Seine Regierungszeit war von dem steten Bestreben geprägt, die Gleichrangigkeit Passaus mit Salzburg zu beweisen. Schließlich ging er daran, dies mit einem groß angelegten Fälschungswerk zu untermauern; als ehemals leitendes Mitglied der Kanzlei Kaiser Ottos I. verfügte er über die dafür nötigen Spezialkenntnisse.

Bischof Pilgrim von Passau gehört wohl zu den schillerndsten Persönlichkeiten des ausgehenden 10. Jahrhunderts. Seine Regierungszeit war von dem steten Bestreben geprägt, die Gleichrangigkeit Passaus mit Salzburg zu beweisen. Schließlich ging er daran, dies mit einem groß angelegten Fälschungswerk zu untermauern; als ehemals leitendes Mitglied der Kanzlei Kaiser Ottos I. verfügte er über die dafür nötigen Spezialkenntnisse.

Pilgrim versuchte mit dem Bündel gefälschter Urkunden und anderer Schriftdokumente nachzuweisen, dass das Bistum Passau auf das spätantike Bistum in Lauriacum (Lorch) zurückgehe. Dieses habe bis 700 dort bestanden und sei dann aufgrund der Awarengefahr nach Passau verlegt worden. Damit sei Passau das älteste der baierischen Bistümer und stehe daher gleichrangig mit dem Erzbistum Salzburg sowie über den Bistümern Regensburg und Freising. Das Bistum Passau müsse daher aus dem Erzbistum Salzburg herausgelöst und seinerseits zum Erzbistum erhöht werden. Zudem gebühre Passau das Vorrecht, bei den Ungarn Mission zu betreiben. Durch Interventionen Salzburgs wurden die Urkunden von Papst Benedikt VII. (974-983) jedoch nicht anerkannt.
Die Person Pilgrims von Passau lebt hingegen auch im Nibelungenlied fort, dessen Handlung aus mehreren Zeitebenen zusammengesetzt ist: Die Völkerwanderungszeit ist darin ebenso widergespiegelt wie die Zeit der Awarenkriege Karls des Großen um 800, die Niederlage des baierischen Heeres bei Pressburg/Bratislava 907, das ausgehende 10. Jahrhundert und die höfische Kultur der Zeit um 1200.

Autor: Christian Rohr, 2009