Ein Gespräch zwischen dem Historiker Kurt Bauer, Gastreferent am Tag der OÖ Regional- und Heimatforschung, und Siegfried Kristöfl, dem Leiter der ARGE Regional- und Heimatforschung OÖ., über das Kriegsende 1945, Lebensgeschichten und den inspirierenden Austausch mit HeimatforscherInnen.
Siegfried Kristöfl: Herr Bauer, Ihr neues Buch (und auch Ihr Referat bei unserer Tagung) trägt den spannenden Titel: „Niemandsland zwischen Krieg und Frieden“. Fehlte es in Österreich zu Kriegsende an einer klaren Orientierung?
Kurt Bauer: Vorgezeichnet war nichts. Man stand 1945 vor einem riesigen Berg an Problemen und hatte keine Ahnung, wie man aus der Misere wieder herauskommen sollte. Pessimismus und Lebensangst waren weit verbreitet. Aber es gab auch die große Hoffnung, dass alles besser werden würde. Die Zukunft – im Guten wie im Schlechten – lag offen vor einem. Es war keine ‚Stunde Null‘, wie dieses Jahr oft genannt wird, aber man war doch auf einige Zeit in einer Art Nirgendwo zwischen gestern und heute gelandet, eben in einem Niemandsland. Darum, um diese Stimmungslagen, Hoffnungen, Ängste, Wünsche, Befürchtungen wird es in meinem Vortrag bei der Tagung gehen.
Siegfried Kristöfl: Kann man Vergleiche mit der Situation ab November 1918 anstellen oder beginnen diese bald zu hinken?
Kurt Bauer: Nun ja, der Vergleich von 1945 zu 1918 ist naheliegend. Aber die Unterschiede sind bedeutend. Meines Erachtens ist die wahre Zeitenwende vom alten zum neuen Österreich 1945 passiert, nicht 1918
Siegfried Kristöfl: Welche Quellen haben Sie für diese Arbeit bevorzugt genutzt?
Kurt Bauer: Ich habe in diesem Buch ausschließlich mit lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen, Tagebüchern und dergleichen gearbeitet. Insofern stellt „Niemandsland“ auch eine Fortsetzung meines Buches „Die dunklen Jahre“ über Österreich im NS dar.
Siegfried Kristöfl: Und gibt es allfällige Beispiele aus Oberösterreich?
Kurt Bauer: Die meisten Materialien stammen aus der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (kurz: Doku Lebensgeschichten) des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Das ist bestimmt die größte und beste Sammlung von Ego-Dokumenten österreichweit. Es bedeutet aber leider auch eine gewisse Ostösterreichlastigkeit. Die meisten verwendeten Erzählungen stammen aus der Gegend östlich der Zonengrenze an der Enns. (Was aber im Übrigen auch der besonderen Dramatik der Vorgänge dort geschuldet ist.) Allerdings habe ich mich ausführlich mit dem Tagebuch eines italienischen KZ-Häftlings befasst, der das Kriegsende in Gusen erlebt hat.
Siegfried Kristöfl: Viele ihrer Publikationen beschäftigten sich mit den politischen Ereignissen im Österreich der 1930er Jahre. Hat sich das Interesse der Öffentlichkeit an diesen Themen in den letzten Jahren verändert?
Kurt Bauer: Doch, Anfangs der Nuller-Jahre hielt man das Thema eigentlich für „ausgeforscht“, das Gegenteil war wahr. Im Moment passiert sehr viel in diese Richtung – Tagungen, Diskussionsrunden, Sammelbände, auch einige Überblicks-Monografien sind erschienen. Wobei allerdings meist nur alte ideologische Vorurteile wiedergekäut werden. Neues kommt dabei selten heraus. Man zementiert immer nur alte Standpunkte ein. Wissenschaftlich neutrale, empirische fundierte Forschung ist nach wie vor selten.
Siegfried Kristöfl: Wie gestaltet sich Ihr Umgang mit Beiträgen und Beteiligten aus nicht-akademischem Bereich (sprich: von HeimatforscherInnen und regionalen ExpertInnen)?
Kurt Bauer: Gerade im lokalen Bereich wird Geschichte greifbar und begreifbar. Die Menschen erleben sie als Teil ihrer selbst. Und im lokalen Bereich erlebe ich auch das größte Interesse und Engagement. Ich blicke diesbezüglich auf eine ganze Reihe von spannenden persönlichen Erlebnissen und Begegnungen zurück. Im Übrigen könnte ich sofort eine Anzahl von Aufsätzen und Büchern aus dem lokalgeschichtlichen Bereich zitieren, die den Ergebnissen universitärer, akademischer Forschung um nichts nachstehen und diese sogar übertreffen.
Siegfried Kristöfl: Das heißt Sie stehen durchaus in einem ständigen Austausch?
Kurt Bauer: Wegen meiner Spezialisierung auf die Zwischenkriegszeit und die NS-Ära und wegen der Datenbanken von Februaropfern, Juliopfern und vor allem auch wegen der Anhaltehäftlinge, von denen ich rund 10.000 erfasst habe, bekomme ich laufend Anfragen von Menschen, die sich mit ihrer Familiengeschichte befassen sowie von lokal- und regionalhistorisch interessierten und teilweise auch forschenden Personen. Der Austausch mit diesen Menschen ist für mich (fast) immer sehr interessant und aufschlussreich. Und sehr oft bin ich es, der mehr Neues und Interessantes erfährt als ich selbst an Informationen anzubieten habe.
Siegfried Kristöfl: Nehmen Sie auch Topotheken als gewichtige Quellensammlung wahr?
Kurt Bauer: Bisher hatte ich leider noch keine Gelegenheit, Topotheken als ‚Fundgrube‘ zu nützen. Aber ich finde, dass es sich um eine großartige Einrichtung handelt. Manchmal scrolle ich mich einfach durch und schaue mir Bilder aus bestimmten Regionen an. Das Engagement der Menschen, die derartige Topotheken aufbauen, kann man nur begrüßen und wertschätzen. Leider gibt es in meiner engeren obersteirischen Heimat keine Topotheken.
Aber dazu passt eine persönliche Erfahrung: Ich habe für meine Heimatgemeinde St. Peter am Kammersberg im Bezirk Murau eine Facebook-Gruppe gegründet, die sich mit der Vergangenheit des Ortes beschäftigt und regen Zuspruch findet (über 1300 Mitglieder bei einer Gemeindegröße von ca. 2000 Menschen). Regelmäßig werden alte Fotos, Dokumente, Zeitungsausschnitte und dergleichen gepostet und diskutiert. Für mich ist das auch eine Möglichkeit, nach dem Tod meiner Angehörigen mit meiner Heimat Kontakt zu halten.
Siegfried Kristöfl: Empfinden Sie es als Privileg, ein Berufsleben lang forschend mit Geschichte zu beschäftigen, oder erleben und gestalten Sie eine Abfolge von Projekten, die aneinandergereiht eine österreichische Historiker-Karriere ergibt?
Kurt Bauer: Natürlich ist es ein Privileg, sich als Historiker und Forscher betätigen zu können und damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, noch dazu ungebunden vom Uni-Betrieb und all seinen bürokratischen Mühen und Positionskämpfen. Ich muss an dieser Stelle ausdrücklich dem Zukunftsfonds der Republik Österreich danken, ohne dessen Unterstützung mein Weg nicht möglich gewesen wäre.
Siegfried Kristöfl: Aus Ihrem Lebenslauf sticht heraus, dass es nicht Ihre erste Entscheidung war, Geschichte zu studieren und Historiker zu werden. Sie sind sozusagen ein „Spätberufener“?
Kurt Bauer: Geschichte war schon immer meine erste Wahl. In jeder Schule, die ich besucht habe, war das mein Lieblingsfach, und ich war immer der Beste darin. Aber dass ich ein Historiker werden könnte, dass ich von der historischen Forschung und vom Schreiben historischer Bücher leben könnte, daran habe ich nie im Entferntesten gedacht.
Ich bin wegen Aufsässigkeit und Renitenz von der Schule geflogen, habe dann den Beruf eines Schriftsetzers gelernt in einer sehr kleinen Druckerei in Murau, Obersteiermark. Mit 25 Jahren habe ich die Matura nachgeholt an der „Grafischen“ in Wien und bin eigentlich ein Ingenieur für Drucktechnik. Danach habe ich begonnen, in verschiedenen Verlagen in Wien als Producer zu arbeiten und bin später aufs Lektorieren von Büchern umgestiegen.
Mit 30 Jahren habe ich das Studium der Geschichte an der Uni Wien begonnen – immer neben der normalen Berufstätigkeit wohlgemerkt. 2002 habe ich meine Dissertation über „Sozialgeschichtliche Aspekte des nationalsozialistischen Juliputsches“ abgeschlossen, die danach unter dem Titel „Elementar-Ereignis“ herausgekommen ist, sich überraschend erfolgreich verkauft hat und schließlich sogar mit einem „Bruno-Kreisky-Anerkennungspreis“ ausgezeichnet wurde.
Danach bin ich ca. 2006 in ein Forschungsprojekt reingeschlittert, das mir für einige Zeit meinen Lebensunterhalt gesichert hat. Und so ging es dann auch weiter. Ich habe aber daneben immer wieder auch mal Bücher lektoriert, das war sozusagen mein Sicherheitsnetz. Und so schlage ich mich bis heute durch, stets als Freiberufler, nie angestellt.
Sorry, das ist eine sehr lange Antwort auf eine kurze Frage; ich habe mich vergaloppiert …
___________
KURT BAUER wurde 1961 in St. Peter am Kammersberg (Steiermark) geboren. Sein aktuelles Buch („Niemandsland zwischen Krieg und Frieden“) erscheint Ende März 2025 im Residenz-Verlag.