Der Fall des Eisernen Vorhangs

Franz Kardinal König, 24. Juli 1998

„Heute ist Europa nicht mehr nur eine Erinnerung an das, was es einmal war, sondern der noch offene Weg zu dem, was es sein soll.“

Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele

Am 2. Mai 1989 begann Ungarn an der Grenze zu Österreich mit dem Abbau des „Eisernen Vorhangs“. Am 11. Dezember 1989 gingen Kommandos der tschechoslowakischen Grenztruppen überall zwischen Bratislawa und Wullowitz daran, mit Drahtscheren die Stacheldrahtverhaue des Eisernen Vorhangs an der Grenze zu Österreich zu entfernen.

Österreichische, tschechoslowakische und ungarische Spitzenpolitiker setzten ein Zeichen und legten bei der Öffnung des Eisernen Vorhangs selbst Hand an.
Zahlreiche Journalisten wurden Zeugen davon, wie Landeshauptmann Dr. Josef Ratzenböck mit dem Kreisvorsitzenden von Südböhmen, Dipl. Ing. Miroslav Šenkyř, am 11. Dezember 1989 an der oberösterreichisch-tschechischen Grenze eigenhändig den Draht durchschnitt. Die Außenminister Alois Mock und Jiři Dienstbier wiederholten wenige Tage später in Laa an der Thaya an der niederösterreichsich-tschechischen Grenze die gleiche Aktion und Alois Mock durchtrennte gemeinsam mit seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn bereits am 27. Juni 1989 an der burgenländisch-ungarischen Grenze den Stacheldraht.

Der Zusammenbruch des „Eisernen Vorhangs“, der Ostmitteleuropa plötzlich vom Sowjetkommunismus befreit und wieder ohne Einschränkungen für seine traditionellen Verbindungen zu Wien geöffnet hat, hat die politische und wirtschaftliche Position Österreichs und Oberösterreichs grundsätzlich verändert. Mit der Öffnung der über Jahrzehnte toten Grenze nach Norden bot sich zweifellos nicht nur für die Grenzregionen eine neue Chance. Alte Verbindungen konnten neu belebt werden. Gleichzeitig war aber jene bequeme Stellung, die Österreich und Wien als neutraler, gleichzeitig weit nach Osten vorgeschobener Außenposten des Westens in den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit dem Osten eingenommen hatte, verloren gegangen. Plötzlich gab es viele Konkurrenten im Ostgeschäft.

Autor: Roman Sandgruber, 2005