Die Erforschung schriftloser Zeiten beruht auf der Auffindung und Interpretation materieller Artefakte vergangener Zeiten und ihres Kontextes. Die Fragen nach der Aussagekraft dieser Quellen sind zentral. Archäologische Hinterlassenschaften bilden nur ungenügend und lückenhaft Ausschnitte ehemaliger Lebensumstände ab. Gräber repräsentieren mit Sicherheit religiöse Vorstellungen, ohne dass wir Heutigen eine Möglichkeit hätten, diese ohne Schriftquellen zu rekonstruieren. Siedlungsfunde hingegen stellen zwar unwillkürliche Hinterlassenschaften dar, lassen nichtsdestotrotz meistens ebenfalls mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu. Ein Beispiel soll dies illustrieren: der im Boden erhaltene Grundriss eines großen Hauses im Zentrum einer Ansammlung kleinerer Hausgrundrisse muss nicht zwangsläufig das Herrenhaus im Dorf darstellen. Andere Thesen aus dem sozialen, religiösen oder wirtschaftlichen Bereich sind ebenfalls denkbar. Je lückenhafter die Quellenlage, desto größer ist der Interpretationsspielraum und desto seltener lässt sich rekonstruieren, wie „etwas war“. Mehrere parallel nebeneinander existierende Möglichkeiten müssen geduldet werden.
Diese Tatsache führt(e) nicht selten zu Missbrauch. Wo die Wissenschaft aufgrund der Quellenlage methodisch begründet vage bleiben muss, können weltanschauliche Extreme archäologische Inhalte vereinnahmen.
Archäologische Forschung befasst sich letztendlich nicht nur mit der minutiösen Sortierung von Gefäßbruchstücken, naturwissenschaftlich genauen Datierungen oder neuesten Prospektionsmethoden – sie trägt ebenso wie alle anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen bei zu einem besseren Verständnis des Menschen in seinem kulturell gewachsenen Umfeld.
Die Ur- und Frühgeschichtsforschung ist nicht – wie die klassische Archäologie – aus der Kunstgeschichte und der Beschäftigung mit antiken Gegenständen des Mittelmeerraumes heraus entstanden, sondern aus der Beschäftigung mit der eigenen Heimat und dem Bedürfnis, die „eigene Geschichte“ besser zu verstehen.
Ur- und Frühgeschichtsforschung in der NS-Zeit
Zu einer Instrumentalisierung der Ur- und Frühgeschichtsforschung kam es im deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts und insbesondere unter dem nationalsozialistischen Regime. Die Disziplin eignete sich neben einigen anderen Fächern wie Volkskunde und Anthropologie hervorragend zur Legitimation eines germanischen Kontinuitätsglaubens und zur Untermauerung einer nationalsozialistischen Rassenideologie. Die von Heinrich Himmler 1935 gegründete Institution „Das Ahnenerbe“ vereinigte eine Vielzahl an (pseudo-)wissenschaftlichen Einrichtungen (vgl. Hemmers, Archäologie und Nationalsozialismus, 229). Ziel der Forschungen war die Darstellung und „Beweislegung“ jahrhundertelanger und geographisch weit verbreiteter germanischer Kulturkontinuität. In diesem Sinne erfolgte auch die Auswahl der Ausgrabungsorte. Die Ur- und Frühgeschichtsforschung erlebte in dieser Phase des 20. Jahrhunderts eine aktive und passive Vereinnahmung – sie wurde nicht nur missbraucht, sondern ließ sich auch missbrauchen. Die Auswirkungen sind teilweise noch heute innerhalb des Wissenschaftsbetriebes zu spüren. Nicht zuletzt wird die Konzentration auf typochronologische Arbeiten („Materialvorlagen“) und die deutliche Theoriemüdigkeit der deutschsprachigen Forschung gegenüber der englischsprachigen in den Jahrzehnten nach dem Krieg auf diesen Faktor zurückgeführt.
Nationalsozialistische Bauprojekte führten in Oberösterreich zu einigen „Zufallsfunden“ aus ur- und frühgeschichtlicher Zeit, denen passend zur hohen Bedeutung von Geschichte und damit zusammenhängenden verfälschenden Deutungen große Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
Gräberfeld Gusen/Langenstein
Nordwestlich des Dorfes Gusen, an der Flanke des Frankenberges, befand sich bis zur Mitte unseres Jahrhunderts ein großes Gräberfeld aus der beginnenden Urnenfelderzeit (= letzter Abschnitt der Bronzezeit). Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen stießen 1941 bei ihren Arbeiten in den Granitsteinbrüchen auf Skelettreste und Keramikbruchstücke. Daraufhin begann eine der wohl ungewöhnlichsten und wohl auch erschütterndsten Ausgrabungen der österreichischen archäologischen Forschungsgeschichte.
Die Grabungen im Lagerbereich standen zwar unter ständiger Betreuung des Bundesdenkmalamtes in Wien, doch die Oberaufsicht lag bei der Lagerleitung, der SS. Häftlinge des Konzentrationslagers stellten den rasch von den Archäologen instruierten Grabungs- und Präparationstrupp dar.
Die geborgenen Funde und die Dokumentation verblieben im Lager. Vor allem der Übersichtsplan des Gräberfeldes durfte nicht entfernt werden, da es sich dabei gleichzeitig um den Plan eines Konzentrationslagers handelte. 1944 wurden wegen der immer heftiger werdenden Bombardierungen die schon präparierten Funde samt Dokumentation im Lager sorgfältig von den Archäologen und den Häftlingen verpackt und einer allgemeinen "SS Luftschutzbergung" angeschlossen. Die unpräparierten Funde verblieben im Lager um den dem Grabungstrupp zugeteilten Häftlingen die Möglichkeit zu geben, in den Baracken und nicht in den Steinbrüchen weiterzuarbeiten. Diese in Gusen verbliebenen Funde waren nach der Befreiung der Häftlinge nicht mehr im Lager auffindbar. Die von der SS in Sicherheit gebrachten Materialien konnten nach Kriegsende zum Teil wieder nach Österreich gebracht werden.
In den 1990er Jahren wurde dieses noch vorhandene Material bearbeitet und veröffentlicht, unter Mitarbeit der ehemaligen Leiterin der Grabungen in Gusen, die die Situation des Gräberfeldes von Gusen und seiner Ergrabung anschaulich ausdrückt: „Die widrigen Umstände der Kriegszeit in einem Konzentrationslager und die Wirren danach bewirkten, daß die Funde und Befunde des Gräberfeldes von Gusen, geborgen von Menschen, die täglich um ihr Leben zittern mußten, nur lückenhaft vorliegen.“ (Ladenbauer-Orel 1992, S. 51)
Das bedeutendste Grab von Gusen (5/1941) beinhaltete neben einer Bronzetasse auch ein Schwert, ein Rasiermesser und eine Lanzenspitze. In den meisten Gräbern fanden sich neben Resten von Keramikgefäßen nur wenige Metallgegenstände.
Wo die Siedlung der hier Bestatteten sich befand, konnte während der Grabungen nicht geklärt werden. Diese Frage wird durch die starke moderne Überbauung des Gebietes wohl ungeklärt bleiben müssen.
Einige der große Bauprojekte (VÖEST, Reichsautobahn) der NS-Zeit förderten in Oberösterreich weitere ur- und frühgeschichtliche Fundstücke zutage.
Gräberfelder Linz-St. Peter und Linz-Zizlau (1938–1945)
Im Zuge der Errichtung der Hermann-Göring-Werke (später VÖEST) stieß man im Westen der Ortschaft St. Peter auf frühbronze-, urnenfelder- und hallstattzeitliche Gräberfelder. Unterstützt durch die Werksleitung erfolgte eine Grabung, die von Werksmitarbeitern durchgeführt wurde. Das "Institut für Denkmalpflege" (heutiges Bundesdenkmalamt) übernahm die wissenschaftliche Leitung der Grabung. Die Dokumentation der Funde ist leider sehr lückenhaft. Aufgrund der zunehmenden Luftangriffe wurde das Fundmaterial gegen Kriegsende in Luftschutzkeller verlagert und nach dem Krieg an das OÖ. Landesmuseum übergeben. Nach einer wissenschaftlichen Bearbeitung in den 1950er und 1960er Jahren durch das Bundesdenkmalamt, die auch publiziert wurde, befinden sich die Gräberfunde heute im Nordico – Museum der Stadt Linz.
Autorin: Jutta Leskovar, 2006