Eugenischer Rassismus
Neben dem anthropologischen Rassismus gegen nicht-arische Völker gab es auch den eugenischen Rassismus, der sich gegen Angehörige der eigenen Rasse wandte, die als minderwertig und erbkrank galten. Kranke, Asoziale oder Menschen mit Behinderung wurden als Belastung für die Gesellschaft angesehen. Durch zwangsweise Sterilisationen sollten sie in einem ersten Schritt an der Fortpflanzung gehindert werden. Die gesetzliche Grundlage dafür bildete das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. In Deutschland bereits mit 1. Jänner 1934 in Kraft, erlangte es in der Ostmark erst mit 1. Jänner 1940 Gültigkeit. Zwangsweise unfruchtbar gemacht werden sollten Menschen, die von den Amtsärzten als Erbkranke eingestuft wurden (siehe Kapitel zur Gesundheitspolitik).
Meldepflicht für „erbkranke“ Personen
Alle im Gesundheitswesen Tätigen – von Spitals- und Gemeindeärzten bis zu Gesundheitsfürsorgerinnen und Hebammen – hatten die Pflicht, Personen, die sie für erbkrank hielten, dem Gesundheitsamt anzuzeigen. Eine große Zahl von Meldungen reichten die Musterungsstäbe der Wehrmacht ein. Anzeigen kamen aber auch aus der Bevölkerung, vor allem von lokalen Parteifunktionären. Zu Informanten für die Amtsärzte wurden auch die Standesbeamten. Hegten diese bei der Bestellung des Aufgebotes Zweifel an der Ehetauglichkeit des Bräutigams oder der Braut, konnten sie auf einer Ehetauglichkeitsuntersuchung bestehen.
Der Anzeige folgten Ermittlungen und Recherchen, die der Amtsarzt koordinierte. All dies passierte ohne Wissen der Betroffenen, wodurch Willkür und Denunziation gefördert wurden. Bei den Recherchen fungierten die Gesundheitsfürsorgerinnen als „Außenposten des Gesundheitsamtes“, da sie gut Bescheid wussten über den Gesundheitszustand vieler Familien. Sie erstellten Sippenfragebögen und Sippentafeln. Schule und Arbeitgeber wurden befragt. Die ärztliche Schweigepflicht galt im Rahmen dieser Ermittlungen nicht. Verfestigte sich der Eindruck einer Erbkrankheit, wurde die betroffene Person zu einer Untersuchung beim Gesundheitsamt vorgeladen und erfuhr erst jetzt von den gegen sie eingeleiteten Schritten. Bei dieser Untersuchung erfolgte auch eine Intelligenzprüfung, die häufig zur diffusen Diagnose angeborener Schwachsinn führte. 60 bis 80 % aller Sterilisationsanträge in Oberdonau basierten auf dieser Diagnose. Besonders betroffen waren auch die sozialen Unterschichten. Die Sterilisationsdiagnostik versuchte alle Formen des sozialen Andersseins zu schematisieren und zu klassifizieren. Soziale Benachteiligung und Unangepasstheit wurden zur Erbkrankheit umdefiniert.
Zwangssterilisationen
Stellte der Amtsarzt eine Erbkrankheit fest, beantragte er die Unfruchtbarmachung des Untersuchten beim zuständigen Erbgesundheitsgericht. Diese Anträge konnten auch von den Leitern der Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten und der Strafanstalten gestellt werden. Theoretisch konnten auch die Betroffenen selbst einen Antrag stellen. Dies geschah aber nur in Ausnahmefällen und meist unter Druck. Die Anzahl der Sterilisationsanträge unterschied sich bei den einzelnen Gesundheitsämtern stark. An besonders säumige Gesundheitsämter erging von der Gesundheitsabteilung der Reichstatthalterei immer wieder die Aufforderung zu mehr Sterilisationseifer, wobei meist vorbildliche Amtsärzte – etwa jener im Landkreis Schärding – zur Nachahmung empfohlen wurden.
In Oberdonau entschieden über die Anträge auf Unfruchtbarmachung die Erbgesundheitsgerichte in Linz, Wels, Steyr, Ried und Krumau. Einzige Beschwerdeinstanz war das Erbgesundheitsobergericht in Linz. Den Vorsitz bei all diesen Gerichten hatte ein Jurist inne, die beiden Beisitzer waren Ärzte. Das Linzer Erbgesundheitsgericht entschied in 90 % aller Fälle auf Sterilisation, nur 4 % der Beschwerden beim Erbgesundheitsobergericht waren erfolgreich.
Hatte das Gericht die Unfruchtbarmachung beschlossen, wurde diese von Chirurgen, Radiologen oder Röntgenfachärzten vorgenommen. Insgesamt wurden in Oberdonau über 1000 Menschen zwangssterilisiert.
Obwohl formal verboten, war manchmal ein Arzt zugleich Antragsteller, Beisitzer am Erbgesundheitsgericht und Operateur war. Der Linzer Amtsarzt etwa entschied in Personalunion über Beschwerden gegen seine eigenen Urteile. Er sah es nach eigener Aussage als seine ärztliche Aufgabe an, „das wertvolle Erbgut des deutschen Volkes zu fördern, das schwache aber auszumerzen.“ Nach dem Krieg wurde er als minderbelastet eingestuft und auf seinem Posten als Leiter des Gesundheitsamtes belassen.
Die Zwangssterilisation hatte für die Betroffenen schwerwiegende Folgen sozialer und gesundheitlicher Natur. Manche, der Großteil davon Frauen, starben durch den Eingriff, andere gerieten in soziale Isolation. Die NS-Propaganda versuchte dies zwar zu unterbinden und rief die Bevölkerung auf, den Sterilisierten mit Achtung zu begegnen, weil sie zugunsten der Volksgesundheit auf Nachkommen verzichtet hätten, aber die Lebensrealität der Betroffenen sah anders aus. Nach dem Krieg folgte die nächste Diskriminierung: Anträge auf Zuerkennung des Opferstatus wurden lange Zeit abgelehnt.
Ermordung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen – Aktion T4
Im Oktober 1939 unterschrieb Adolf Hitler, rückdatiert auf den Tag des Kriegsbeginns eine Ermächtigung zur Gewährung des Gnadentodes für unheilbar Kranke. Die Durchführung der Aktion lag in den Händen von Reichsleiter Philipp Bouhler, Leiter der Kanzlei des Führers, und Prof. Karl Brandt, Leibarzt von Adolf Hitler.
Die Ermordung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen erfolgte in mehreren Phasen. Am Beginn stand die Kindereuthanasie. Mit der Aktion T4 begann der Mord an Erwachsenen mit Behinderung. Nach dem Abbruch der Aktion T4 kam es zu dezentralen Morden in einzelnen Heil- und Pflegeanstalten. Im August 1939 verfügte ein streng vertraulicher Runderlass des Reichsministers des Inneren, dass Hebammen und Ärzte Neugeborene, die an „Idiotie, Mongolismus, Mikrocephalie, Hydrocephalus, Missbildungen oder Lähmungen“ litten, beim Amtsarzt melden mussten. Diese Meldepflicht erstreckte sich von Neugeborenen bis zu Kleinkindern im 3. Lebensjahr. 1941 hob man die Grenze bis zum 16. Lebensjahr an. Der Amtsarzt leitete die Meldungen an den Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden in Berlin weiter. Dort entschieden Gutachter über das weitere Schicksal der Kinder. Die Tötung der Kinder erfolgte in Kinderfachabteilungen, in die sie, oft gegen den Willen ihrer Eltern, eingewiesen wurden. Unklare Fälle sollten in den Kinderfachabteilungen einige Wochen beobachtet und bei Diagnose einer Erbkrankheit anschließend ermordet werden. In Oberdonau befand sich keine derartige Kinderfachabteilung, die Opfer wurden in Anstalten außerhalb des Gaues gebracht und dort getötet.
In die Aktion T4 sollten zu Beginn sämtliche PatientInnen der großen Heil- und Pflegeanstalten einbezogen werden. Im Herbst 1939 sandte das Reichsministerium des Inneren Fragebögen an alle einschlägigen Anstalten im Reich aus. Sie sollten alle PatientInnen melden, die an bestimmten Krankheiten wie Schizophrenie, Epilepsie oder Huntington-Chorea litten oder sich seit mindestens fünf Jahren in Anstaltspflege befanden, als kriminelle Geisteskranke galten oder artfremden Blutes waren. Als sich herausstellte, dass die Bearbeitung der Meldebögen durch einige Anstalten verzögert wurde, schickten die Berliner Zentralstellen eigene Ärztekommissionen, die vor Ort die Meldebögen ausfüllten und die PatientInnen für die Aktion T4 selektierten. Zu diesen Gutachtern zählte auch der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart in Linz, Dr. Rudolf Lonauer. Die Erfassung der Opfer in den kleineren Anstalten wie der Evangelischen Diakonissenanstalt in Gallneukirchen oder des Fürsorgeheimes im Kloster Baumgartenberg begann in Oberdonau im Juni 1940.
Der Mord an behinderten Menschen war bis in alle Einzelheiten straff organisiert. Dies begann mit der Erfassung der Opfer und reichte vom Transport in die Tötungsanstalten bis zur Verwertung ihres Eigentums. Im Deutschen Reich existierten sechs Tötungsanstalten: Grafeneck, Brandenburg, Bernburg, Sonnenstein, Hadamar und Schloss Hartheim in Oberdonau.
Die Tötungen geschahen unter größter Geheimhaltung. Es wurden nicht nur die Betroffenen über ihr Schicksal im Unklaren gelassen, sondern auch systematisch falsche Sterbeurkunden ausgestellt, um zu verschleiern, dass eine große Zahl an Menschen am selben Tag und am selben Ort gestorben war. Die Habseligkeiten der Toten und ihre Leichen wurden ihren Angehörigen unter Hinweis auf eine bestehende Seuchengefahr nicht übergeben.
Trotz aller Geheimhaltungsversuche wurden die Morde bald bekannt. Angehörige waren empört über das Vorgehen und selbst überzeugte Nationalsozialisten lehnten den Mord an den Menschen mit Behinderung ab. In der Bevölkerung kursierten Gerüchte, dass auch alte Menschen und schwer Kriegsversehrte getötet werden sollten. Die Kirchen protestierten und der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, predigte offen gegen den Mord an behinderten Menschen.
Am 24. August 1941 befahl Adolf Hitler mündlich ein Ende der Aktion T4. Die Gründe dafür sind heute nicht mehr rekonstruierbar. Entscheidend dürfte einerseits der Widerstand in der Bevölkerung gewesen sein, andererseits aber auch das Erreichen des Zieles von nunmehr 70.000 freien Betten, die der Wehrmacht zur Verfügung gestellt wurden. In der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart verwendete man die frei gewordenen Betten für die Einrichtung eines Reservelazaretts.
Das Ende der Aktion T4 bedeutete aber nicht das Ende des Mordens. Die leitenden Personen, die mit der Aktion befasst waren, glaubten an eine Weiterführung nach Kriegsende. Bis zum Jahr 1944 mussten die Heil- und Pflegeanstalten weiterhin Meldebögen über ihre PatientInnen abgeben. Auf die geplante und zentralisierte Euthanasie folgte die „wilde“. In den Heil- und Pflegeanstalten, darunter auch in der Anstalt Niedernhart, ließ man PatientInnen verhungern oder tötete sie durch die Gabe von Medikamenten.
Autoren: Josef Goldberger und Cornelia Sulzbacher
Aus: Goldberger, Josef - Cornelia Sulzbacher: Oberdonau. Hrsg.: Oberösterreichisches Landesarchiv (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 11).- Linz 2008, 256 S. [Abschlussband zum gleichnamigen Forschungsprojekt des Oberösterreichischen Landesarchivs 2002-2008.]