Marianne Robotka. Eine Entscheidung, die mehrere Leben dramatisch veränderte
Frau Marianne Robotka kennen sehr viele Leute in Marchtrenk. Zusammen mit dem Gatten führte sie durch Jahrzehnte zwei Geschäfte („Kaufhäuser“) in unserer Stadt. Zudem sang sie mehr als sechzig Jahre im Kirchenchor und war sie daher an Sonntagen, bei kirchlichen Feiern und bei Begräbnissen fast immer dabei. Wer sie näher kennt, bringt ihr ganz selbstverständlich Respekt entgegen. Es ist ihre fürsorgliche Art, ihr angenehmes Wesen und ihr Engagement für die katholische Kirche und auch für die Anliegen der Donauschwaben, die sie zu einer bekannten und allseits geschätzten Persönlichkeit gemacht haben. Aufbauend auf längeren Gesprächen und vor allem auf dem von ihr selbst geschriebenen Bericht über die Zeit zwischen 1944 und 1947 sollen die Erlebnisse einer jungen Donauschwäbin im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen. Der Originaltext musste gekürzt werden, wird aber sicherlich eines Tages zu Gänze veröffentlicht werden.
Frau Robotka erlebte eine schöne Kindheit in Schönau/Gajdobra in der Vojvodina. Durch den Fleiß der Vorfahren besaßen die Eltern eine große Landwirtschaft mit 156 Joch. Angebaut wurden Weizen, Hafer, Mais, Klee, Gerste und auch viel Hanf. Dieser wurde als das „Gold der Batschka“ bezeichnet und in einer der Familie gehörenden Fabrik verarbeitet. Er wurde im Herbst geschnitten, es wurden Bündel gemacht und diese dann in das Wasser in Teichen gelegt und dann mit Erde beschwert. Später wurde er getrocknet, durch Walzmaschinen „gebrochen“, die entstandenen Fasern versponnen, gewebt und von der Sonne gebleicht. Es wurden hauptsächlich Tisch- und Handtücher, sowie Leintücher produziert.
In dem rein deutschen Gajdobra lebten ungefähr 4.000 Menschen. Der ganze Ort hatte den römisch-katholischen Glauben. Daneben gab es aber auch zahlreiche Dörfer, wo alle evangelisch waren. Nach dem I. Weltkrieg erfolgte der Unterricht nur mehr auf Serbisch.
Nachdem Deutschland im früheren Jugoslawien einmarschiert war, fiel das Gebiet zwischen Theiss und Donau, die Batschka, an Ungarn. Der Vater von Frau Robotka wurde noch vorher zum serbischen Militär eingezogen um gegen die Deutschen zu kämpfen. Durch die Gebietsabtretung wurden sie alle dann ungarische Staatsbürger. Dennoch wurden Im April 1944 der Vater und der Sohn, ihr Bruder, zum deutschen Militär eingezogen. Sie erhielten eine schnelle und ungenügende Ausbildung für den Fronteinsatz. Frau Robotka musste mit 12 Jahren neben serbisch nunmehr auch auf Ungarisch in der Schule lernen.
Lassen wir nun Frau Robotka selbst berichten:
„Im Herbst wurden dann alle (donauschwäbischen) Soldaten aus den verschiedenen Kasernen in Hodschag zusammengezogen. Sie waren dort in einem umzäunten Quartier. Die Männer konnten aber noch ihre Familien benachrichtigen. Auch mein Vater hat uns Nachricht geschickt, dass meine Mutter und ich noch einmal nach Hodschag kommen sollten, damit wir uns noch einmal sehen und auch verabschieden könnten“. Mutter und Tochter fuhren dorthin, konnten aber nicht mehr nach Gajdobra zurück, da keine Züge mehr dorthin fuhren. Die Einwohner von daheim mussten mit dem deutschen Militär mitflüchten. Dies geschah in Pferdewagen, die mit Planen überdacht worden waren. Es hieß dann, dass die Fluchtwagen durch Sombor kommen.
„Meine Großmutter (Rosalie Finck) und meine Tante (Elisabeth Tillinger) sind mit einem Wagen gekommen. Dort hätten wir aufsitzen sollen, sie wollten uns mitnehmen. Es war dann so furchtbar. Oma und meine Tante haben gedrängt, dass wir aufsitzen sollen, weil sie den Treck nicht aufhalten konnten, da sie sonst den Anschluss verloren hätten. Es war ein Weinen und Schreien, was zu tun sei, weil die Eltern meiner Mutter (Adam und Elisabeth Schauer) nicht dabei waren. Meine Mutter wollte deswegen nicht aufsteigen. ….. Ein Wagen ist aus der Kolonne ausgeschert und wollte wieder zurückfahren. Das war Barbara Reiss, die nach dem Krieg auch in Marchtrenk gelebt hat.“ Sie sind dann aufgestiegen und wieder in ihr Dorf gekommen.
Diese Entscheidung veränderte in dramatischer und schauderhafter Weise das Leben einer ganzen Familie. Denn es folgte ein Leben in einer gesetzlosen Zeit in der Morde, Plünderungen, Verschleppungen zur Zwangsarbeit nach Russland, ständige Angst, Hunger und schwerste Zwangsarbeit – selbstverständlich immer unbezahlt – zum Alltag gehörten.
„Wir sind dann in unserem Finck-Haus gewesen. Aber es war nicht lange Ruhe, weil dann die Aufrufe kamen (ein Trommler hat das verkündet), dass sich gewisse Jahrgänge bei der Gemeinde melden sollten. Zuerst waren es nur Männer. Die sind dann alle zusammengezogen worden und in die Kreisstadt Palanka gebracht worden. Dann hat man nichts mehr von ihnen gehört. Die sind alle erschossen worden, hat man dann später gehört. Unser ehemaliger Bürgermeister wurde auch gefoltert, sie haben ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen – so wurde es uns berichtet. Bevor wir im April 1945 ins Lager kamen, fanden noch 21 Hausdurchsuchungen statt. Jedes Mal drangen Partisanen, Männer und eine Frau, die besonders brutal vorging, in unser Haus ein und verwüsteten es. … Meine Mutter, die von Kind auf herzkrank war, fiel meist in Ohnmacht und lag auf dem Vorzimmerboden. …Am Schluss haben wir die Sachen nicht mehr aufgeräumt.“ … „Im Herbst haben mein Vater und mein Bruder erfahren, dass meine Mutter und ich nicht ausgewandert waren. Nach dem Krieg, der Kapitulation, sind sie dann zurück und wollten in unser Dorf. Auf dem Weg dorthin wurden sie aber von den Partisanen gefangen genommen und kamen in die Kohlengruben von Tuzla. … Mein Vater war vier Jahre Kriegsgefangener bei den Serben, bis Oktober 1949.“
Frau Robotka erlebte auch das Eintreffen der russischen Soldaten. In ihrem Haus waren mehr als 100 Soldaten einquartiert. Da die Soldaten sich mit dem Wein aus dem Keller betranken, flüchteten die Mutter und sie in das Haus ihrer Großeltern. Dabei wurden sie gesehen und die Russen forderten vom Großvater – unter der Drohung ihn zu erschießen – bis drei Uhr früh die Herausgabe der zwei Frauen. „Dann erschallte eine Sirene und die Russen mussten sofort abziehen. Das war dann unsere Rettung“.
Im Herbst 1944 wurden die Frauen und Mädchen verschiedener Jahrgänge aufgefordert, mit einem Rucksack für das Nötigste sich bei der Gemeinde zu melden. Diese Frauen wurden dann nach Russland verschleppt. „Wir standen dann vor der Gemeinde. Dann kam ein Russe auf mich zu und zog mich heftig aus der Reihe. Ich dachte, ich würde jetzt gleich erschossen. Ich wurde aber nach Hause geschickt. Später habe ich erfahren, dass er sagte: „Seit wann holen wir Kinder?“ Dieser Vorfall zeigt uns, dass es nicht „die Russen, die Serben, die Deutschen“ gibt, sondern dass Menschlichkeit an jedem einzelnen selbst liegt.
Die beiden Frauen mussten im Herbst auf fremden Feldern schwere Zwangsarbeit leisten. Im Frühjahr kamen sie in einer Hanffabrik unter. Doch dann gab es ein unerwartetes Ereignis: „Ich glaube es war der 10. April. Wir hatten Nachmittagsschicht um 14.00 Uhr. Aber dann durften wir nie wieder nach Hause. Dann waren wir interniert und nur noch in diesem Lager.“
Bevor Frau Robotka den Tagesablauf, das „Essen“, die Versuche zu überleben ausführlich beschreibt, erfahren wir Erschütterndes über ihre Familie.
„Dann sind die Großeltern freiwillig in das Vernichtungslager nach Jarek gegangen, damit das kleine Enkelkind nicht allein ist. Ebenso mussten mit nach Jarek die Urgroßmutter, Katharina Oswald, und der Bruder meines Vaters, Nikolaus Finck. Ebenso kamen ins Lager die beiden Schwestern von meinem Großvater, Koringer Theresia und Maria Tillinger. Der Ort Jarek war ein einziges Vernichtungslager. Sie alle sind dort verstorben zwischen 1945 und 1946. Außer Maria Tillinger, ihr ist die Flucht 1947 gelungen.“
Im April 1947 entschlossen sich die beiden Frauen über Ungarn nach Österreich zu flüchten. In Ungarn trafen sie Verwandte und Professorinnen aus der früheren Bürgerschule, die ihnen ermöglichten in Pfarrhöfen und Klöstern zu übernachten. Mit Hilfe eines Schmugglers kamen sie über die grüne Grenze nach Österreich und Wien. Ein Verwandter besorgte eine Mitfahrgelegenheit auf einem LKW bis Linz-Urfahr. Dort wurde es noch einmal sehr spannend: „Wir wussten nicht, wie wir ohne Papiere über die Grenze in die Westzone kommen sollten. Ein Herr und zwei Damen haben uns bis an die Demarkationslinie mitgenommen. Dort bat der Herr mich auf seine Koffer aufzupassen. Er müsse schnell mit seinen zwei Begleiterinnen über die Grenze. Dann kam er wieder zurück mit den Pässen der beiden Damen. Er gab uns deren Pässe und wir gingen über die Grenze. Der Grenzposten hat die Fotografien sehr lange angesehen, bis er endlich doch genickt hat und wir konnten passieren.“ Auch hier half ein Wildfremder, der ein großes Risiko einging. Mit dem Bus ging es zum Bruder der Mutter, zu Valentin Schauer, der schon in Marchtrenk lebte. Die beiden Frauen lebten in sehr beengten Verhältnissen in der Kothmühle. In der Spinnerei der Firma Becker fanden sie Arbeit. „Ohne Arbeit gab es keine Lebensmittelkarten“, so Frau Robotka. Sie fand sehr rasch Anschluss bei der katholischen Pfarrjugend. Das Pfarrleben in Marchtrenk war damals sehr rege und die Kirche immer voll.
1949 wurde geheiratet. Am Hochzeitstag hörte Frau Robotka vor ihrem Fenster singen: „Geh mach das Fensterl auf“. Genau an diesem Tag war der Vater aus der Gefangenschaft nach Marchtrenk gekommen. Das war für alle eine Riesenüberraschung und wundersame Fügung. Der Ehemann war früher Textilkaufmann in Zagreb. Vorerst sind sie in eine Baracke hinter die Sternmühle gezogen. 1950 wurde Sohn Wolfgang (er starb mit 6 Jahren an einer nicht erkannten Blinddarmentzündung), 1953 Tochter Elfriede, 1962 Sohn Franz und 1963 Sohn Bernhard geboren. Alle drei Kinder sind beruflich sehr erfolgreich.
Im Jahr 1959 wurde das erste Geschäft in der Prinz-Eugen-Straße eröffnet. Es gab dort fast alles zu kaufen: Lebensmittel, Textilien und Futtermittel, da beinahe jede Donauschwabenfamilie Kleinvieh hatte. Auch im Ortszentrum wurde ab 1970 ein großes Geschäft geführt. In der „Siedlung“ hatten sie anfangs das einzige Telefon. Oft kamen Donauschwaben mitten in der Nacht um wegen der Zeitverschiebung mit ihren Verwandten in den USA, Brasilien, Venezuela, etc. zu telefonieren. 1982 ging das Ehepaar Robotka in Pension. Später betreute sie noch ihre betagten Eltern in Wels und pflegte durch drei Jahre ihren Gatten.
Dieser ausführliche Lebensbericht soll ein Denkanstoß für das Bewahren der Erinnerung an fürchterliche und schwere Jahre, die die meisten Heimatvertriebenen erleiden mussten, sein. Das Schicksal der Heimatvertriebenen steht in keinem Schulbuch. So hat Frau Robotka für eine Petition an den Nationalrat, dies zu tun, mehr als 300 Unterschriften in Marchtrenk gesammelt.
Text: Reinhard Gantner
Literaturhinweis: In den Mitteilungen der Landsmannschaft der Donauschwaben in Oberösterreich, Jahrgang 51 (2018), Nr. 1, ist der hier gekürzt wiedergegebene Text zur Biografie von Marianne Robotka in vollem Umfang nachzulesen.
Marchtrenker Frauen - Dokumentation einer Ausstellung des Museumsvereins Marchtrenk - Welser Heide im Rahmen des Tags des Denkmals 2017 unter dem Motto "Heimat großer Töchter" in der Alten Pfarrkirche Marchtrenk.