Erleben. Erinnern. Erzählen

ZeugInnen der Zeit


ZeitzeugInnen aus Linz und Urfahr sprechen über ihre Eindrücke der Nachkriegszeit. Ihre Erzählungen sind wertvolle Zeugnisse unserer Geschichte. Die zugänglich gemachten Erinnerungen, diese sehr persönlichen Einblicke von ZeitzeugInnen, geben uns die Möglichkeit, die Vergangenheit aus anderer Sicht zu betrachten. Ihre Geschichten zur „geteilten“ Stadt spannen einen Bogen von den letzten Kriegstagen bis hin zum Alltag mit den Alliierten. Auch Besatzungskinder, die der Verbindung von österreichischen Frauen mit amerikanischen Soldaten entstammen, kommen zu Wort. In Österreich wurden nach 1945 etwa 20.000 Besatzungskinder geboren. Viele von ihnen haben ihren leiblichen Vater nie kennen gelernt.

Autorin: Klaudia Kreslehner


„Ich bin eigentlich von Geburt an Amerikaner“, erzählt Helmut Bauer (geb. 1949). Der Linzer erfährt erst als junger Erwachsener, dass er das Kind eines amerikanischen Besatzungssoldaten ist, ein „GI-Kind“. Sein zweiter Vorname „Stanley“, den er auf seiner Geburtsurkunde entdeckte, gab den Anstoß: Er machte sich auf die Suche nach seinen Wurzeln. Heute hat er eine zweite Familie in den USA und ist Besitzer eines amerikanischen Passes.
Während er im Keller seiner Linzer Wohnung einen Fliegerangriff miterlebt, befindet sich die Familie des künftigen Bürgermeisters Ernst Koref noch in Haslach: „Vater ist mit der allerletzten Mühlkreisbahn nach Linz gefahren – ich glaube er hat damals schon damit gerechnet, dass Besprechungen zwischen Angehörigen verschiedener künftiger politischer Parteien stattfinden werden“, erinnert sich seine Tochter, Beatrix Eypeltauer (geb. 1929). 1948 beginnt sie ihr Studium in Wien, dort ist die Ernährungslage noch schwieriger als in Oberösterreich. Doch auch in Linz waren es „bescheidene Verhältnisse, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann“.
„Ich wollte nur die Mikrofon-Angst verlieren“ – nach seinem Probetag als Tagessprecher bleibt Wilfrid Freudenthaler (geb. 1927) 33 Jahre lang Sprecher des Radiosenders Rot Weiß Rot (RWR) Linz, später ORF. Das Wunschkonzert, bei dem Glückwunschbriefe der ZuhörerInnen vorgelesen werden, ist in den 1950er Jahren ein besonders beliebtes Sendeformat. In einer kleinen Aufnahmezelle im Studio am Hauptplatz wählt der Radio-Sprecher Musik aus, moderiert, sagt das Wetter an oder spricht die Werbung – heute sind hierfür mehrere MitarbeiterInnen nötig.
Ursula Hackl (geb. 1954) erfährt als Jugendliche, dass ihr Vater nicht ihr biologischer Vater ist. Sie ist die Tochter eines gewissen Thomas Fauley, der als Besatzungssoldat in Hörsching stationiert war. Jahrzehnte später sieht sie einen TV-Beitrag über Besatzungskinder und beschließt, nach ihm zu suchen. 2012 erhält die Linzerin Nachricht von der Organisation „GI-Trace“. Die Suche nach ihren amerikanischen Verwandten war erfolgreich: „Ich wurde im Alter von 58 Jahren Schwester von sechs Brüdern und Tante von 30 Nichten und Neffen.“
Günter Kaar (geb. 1940) erinnert sich an seine Erfahrungen mit den Besatzungsmächten: „Ich hab ja beides mitgemacht, Amerikaner und Russen.“ Besonders beeindruckt haben den damals Jugendlichen die amerikanischen Soldaten: „Die MP in den Jeeps, das waren lässige Typen. Locker drin gesessen, immer einen Fuß heraußen, der Beifahrer natürlich nur (…) eine Ausgeh-Uniform haben die gehabt, schönes Gabardine, so eng anliegende Hosen, das hat mir gefallen! Wir haben so weite Flacheln gehabt, so wie die Steirer-Anzüge waren (…).“
Irmhild Maaß (geb. 1939) wohnt als Mädchen in Urfahr. Nach dem Unterricht schaut sie öfter im Hotel Achleitner vorbei. Dort gibt es nachmittags, initiiert von der russischen Besatzungsmacht, Betreuung für Kinder und Jugendliche. Eines Tages wird sie Zeugin eines bedeutungsvollen Moments: „Am 9. Juni 1953, als ich auf die Brücke komme, war keine russische Kontrolle mehr dort, ich musste keinen I-Ausweis (Identitätsausweis) herzeigen. Die Brücke war frei. Und Linz und Urfahr waren zum ersten Mal seit Kriegsende vereint. Der Donauwalzer wurde gespielt und der Landeshauptmann Gleißner und die Frau des Bürgermeisters Koref haben getanzt, es war ein unglaubliches Erlebnis.“
„Die Linzer Luft war damals bekannterweise schlecht.“ Für Walter Marterer (geb. 1931), ab 1954 Ingenieur der Sendergruppe Rot Weiß Rot (RWR) Linz, ist dieser Umstand bedeutend, da der hohe Gehalt an Schwefeldioxid die Sendequalität des Radios beeinträchtigt. Die Technik sowie die Gerätschaften von damals sind „primitiv und mit heute nicht vergleichbar“. Das Programm wird mit Mittelwelle vom Sender Freinberg ausgestrahlt. Die Sendungen laufen von 5.30 Uhr früh bis ein Uhr nachts. Dann werden die Sender und auch die Geräte im Studio abgeschaltet. „Das Radio war das einzige Medium, das wir zur Unterhaltung und zur Information hatten.“
„Ich war weltweit der erste Coca-Cola-Lieferant, der in russisch besetztes Gebiet gefahren ist!“ Der in Rumänien geborene Peter Potye (geb. 1925) bewirbt sich 1947 bei Coca-Cola. Bis 1953 darf er das Getränk nur an die amerikanischen Besatzer verkaufen, erst danach auch an die Zivilbevölkerung. Schließlich wird er Lieferant für das westliche Linz sowie das westliche Mühlviertel. Bei der russischen Brückenkontrolle an der Nibelungenbrücke gibt er der Wache bei jeder Fuhre ein 6er-Tragerl Coca-Cola. Am Ende des Tages bei der Rückfahrt erhält er zu seinem Erstaunen jedes Mal das vollständige Leergut zurück und kann ohne Probleme die Kontrolle passieren.
Hilde Röhrenbacher (geb. 1928) flieht zu Kriegsende aus Znaim und findet in Linz ihre neue Heimat. In der von den Amerikanern beschlagnahmten Dürrnbergerschule, heute Otto-Glöckel-Schule, findet sie Quartier. Der Turnsaal wird bald in eine Mannschaftsküche für die Alliierten umfunktioniert, die 17-jährige Hilde spricht genug Englisch, um dort in der Essensausgabe arbeiten zu dürfen: „Und von da an ist es uns tatsächlich gut gegangen. Der Amerikaner hat ja alles gehabt zum Essen und was übergeblieben ist, haben wir gekriegt. Die Not, Hunger, das war vorbei. Zum Wohnen haben wir halt nix gehabt, im großen Klassenzimmer haben wir geschlafen.“
„Ich seh‘ mich heute noch auf diesem LKW sitzen.“ Vera Rosenblattl ist sechs Jahre alt, als sie im Mai 1945 in Deutschland auf einen mit Koffern, Kleidung und Möbeln vollgepackten LKW gesetzt wird. An der österreichischen Grenze angekommen warten sie und ihre Familie mit anderen Flüchtlingen drei Wochen auf die Einreise. In Linz beziehen sie eine Baracke am Bindermichl. Tagsüber sind die Kinder auf sich allein gestellt: Der Vater findet Arbeit in der VÖEST und die Mutter sammelt Nahrung und Holz zum Heizen. Einige Jahre muss die Familie in dieser Not-Unterkunft hausen, dann übersiedelt sie in eine Wohnung in einem sogenannten „Hitlerbau“. Aus einem Flüchtlingskind wird eine Linzerin.
Die letzten Wochen des Krieges erlebt Liselotte Schwarzlmüller (geb. 1924) wie so viele LinzerInnen fern der Stadt bei Verwandten am Land. Sie erinnert sich noch gut an die Tage unmittelbar vor Kriegsende: „Wir haben eine weiße Fahne am Haus aufgehängt und abgewartet, was passieren wird. Da sind noch die Insassen der KZs von den deutschen Soldaten bei unserem Haus vorbeigetrieben worden. Ein Huhn ist über die Straße gelaufen und die hungernden ‚KZler’ haben es gefangen und lebend verspeist. Nur noch ein paar Federn sind geflogen und weg war es.“
„Es war ein bisserl rauer bei den Russen“, meint der Urfahraner Helmut Schwarzlmüller (geb. 1923). Bei der täglichen Brückenkontrolle ist er der Laune der Rotarmisten ausgeliefert, einmal muss er der Wache sogar Rum besorgen, um seinen I-Ausweis zurückzuerhalten. Sein vom Bomben schwer beschädigtes Haus baut er mit Hilfe seiner Frau wieder auf: „Keine Mischmaschine, kein Aufzug, alles händisch. Jedes Wochenende sind Freiwillige gekommen und haben geholfen.“
„Kein Mensch hat gewusst, was ein Kaugummi ist. Einer hat gesagt: ‚Den musst in den Mund nehmen und kauen!’ Sag ich: ‚Was, wieso kauen?’ Er: ‚Nein, nicht schlucken! Kauen musst!’ Wenn man das heute jemandem erzählt, da sagt man, das gibt’s nicht. Aber so war das.“. Kurt Wieland, 1934 geboren, freundet sich schnell mit den Amerikanern an. Besonders Soldat Bill ist ihm zugetan und nimmt ihn sogar heimlich in den Offiziersclub Paradiesgarten am Römerberg mit. Dort lernt er die amerikanische Musik kennen und lieben.
Trude Wieland, 1938 geboren, ist die Enkelin eines Mitbegründers der Vereinigten Sodawassererzeugung Linz (VESO). Sie erinnert sich auch noch gut an das VESO-Cola, das für kurze Zeit im Betrieb hergestellt worden ist, „eine echte Linzer Cola!“. Auch sie kann sich für den amerikanischen Flair begeistern: „Für uns war das eine Faszination, welchen Luxus die Amerikaner schon hatten. Die Damen hatten rot lackierte Nägel und trugen Lippenstift, wir wollten genauso werden. Auch die Nylonstrümpfe kamen aus Amerika.“
Helmut Zaiser, 1934 geboren, arbeitet in der Nachkriegszeit in einer Urfahraner Fleischhauerei. Auch die russische Besatzung zählt zu seinen KundInnen. Eine strenge Offizierin ist dem damaligen Gesellen besonders gut im Gedächtnis, da sie stets mehr Ware forderte als die gebrachte Rohware hergab. Fleisch ist in dieser Zeit absolute Mangelware, Reste hat es daher nicht gegeben: „Ein Zeichen der Zeit war, dass eine Verwertung zu 100 % erfolgte.“

Die Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zur Besatzungszeit in Linz sind als Videodokumente auf der Website des NORDICO. Stadtmuseums Linz abrufbar.
 

Dokumentation zur Ausstellung GETEILTE STADT. Linz 1945-55 im NORDICO. Stadtmuseum Linz vom 17. April bis 26. Oktober 2015 | Kurator/in und Autor/in: Klaudia Kreslehner, Georg Thiel