„Ein Lexicon zu verfassen, das den Zwecken der Schule wirklich dienstbar wäre” (aus dem Vorwort zur ersten Auflage, Lest im Mühlviertel, 18. August 1893) - Stowasser hielt die gegen Ende des 19. Jahrhunderts gängigen lateinischen Schulwörterbücher für ungeeignet; er beschloss daher, sie durch ein zeitgemäßes, schülergerecht konzipiertes Lexikon zu ersetzen. Im Schuljahr 1889/90 ließ er sich von der Unterrichtserteilung beurlauben; ein einziges Jahr reichte freilich nicht aus, um im Alleingang ein derart umfangreiches Projekt umzusetzen.
Für Stowasser ist das Wörterbuch der „natürliche Konzentrationspunkt des ganzen Lateinlehrens und Lateinlernens“. Im Frühjahr 1893 war die Arbeit so weit fortgeschritten, dass der Lexikograf anlässlich der 42. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Wien sein innovatives Konzept präsentieren konnte.
Was ist das Neue an Stowassers Wörterbuch?
Der Lexikograf möchte
- ein Wörterbuch vorlegen, das die Ergebnisse der gegen Ende des 19. Jahrhunderts erzielten lexikografischen Fortschritte widerspiegelt.
- die Wörterbuchartikel nach sprachwissenschaftlichen Prinzipien gliedern. Die konsequente Berücksichtigung der Semasiologie (Bedeutungslehre) führt dazu, scharf zwischen „eigentlichen“ und „übertragenen“ Bedeutungen der Wörter zu unterscheiden. Wer einen Wörterbuchartikel liest, sollte nicht nur einen Überblick über die synchrone Bedeutungsvielfalt des Stichwortes, sondern auch über die diachrone Bedeutungsentwicklung gewinnen.
- ein Wörterbuch verfassen, das frisch aus den Quellen, d.h. den berücksichtigten Schulautoren geschöpft ist. Für den Praxisbezug verweist er im Vorwort auf die Erfahrungen, die er „seit anderthalb Jahrzehnten im staatlichen Schuldienst gesammelt hatte“. Als Wörterbuchbasis berücksichtigt er elf Schulautoren, die mit Siglen (z.B. V = Vergil) bezeichnet sind.
- die jeweilige Wortbedeutung durch leicht verständliche Zitate aus den Schulautoren belegen.
- die Wörterbuchartikel durch Strukturanzeiger hierarchisch gliedern und typografisch übersichtlich gestalten. Dabei stellt er die Hauptbedeutungen, wie z.B. der Eintrag carpo (vgl. carpe diem) zeigt, den Belegen voran: carpo, carpere, carpsi, carptus (§ 13) rupfen, pflücken, u. z.
I. in kleine Theile zerreißen; metaph. zersplittern α; <mit Prolepse des Objects> etwas stückweise zustande bringen, zurücklegen; occ. <einen Raum> stückweise durchwandern β.
II. in einzelnen Theilen abreißen, abbrechen, abnehmen; occ. 1. pflücken, abpflücken. 2. rupfen. 3. abfressen, abweiden, fressen α; metaph. <etwas Gutes in einzelnen Stücken> genießen β; allgemach verzehren γ; benagen, bildl.: tadeln, woran nergeln δ; <den Feind durch wiederholte Angriffe> kleinweise schwächen, fortdauernd necken, beunruhigen ε. | I α Milesia uellera nymphae carpebant V zupften die Wolle, carpentes pensa puellae V zupfen = spinnen, cibos digitis c. O zerlegen etc.
Autor: Hermann Niedermayr
Dokumentation der Ausstellung „130 Jahre Stowasser“, 2023 organisiert und gestaltet vom Verein „Kunst Kultur in Kefermarkt“ und der Bundesarbeitsgemeinschaft Klassischer Philologen und Altertumswissenschafter Österreichs „Sodalitas“ im „Stöckl“ in Kefermarkt.