Das 12. Jahrhundert ist eine religiös stark bewegte Zeit, die von Umbrüchen, Aufbrüchen und Protestbewegungen gekennzeichnet ist.
Im Hochmittelalter ist ganz Europa christlich. Die Kirche hat sich konsolidiert und ihre Organisation flächendeckend ausgebreitet. Sie ist durch die Geschichte eng mit der politischen Macht verbunden, hat sich aber im sogenannten „Investiturstreit“ gegen die weltlichen Herrscher durchgesetzt und die Besetzung von kirchlichen Ämtern durch Laien verboten.
Es ist die Zeit der Kreuzzüge und der Judenpogrome, der Neugründungen von Orden und Klöstern, des Aufschwungs der Wissenschaft in der „Scholastik“, der Neuentdeckung des griechischen Philosophen Aristoteles. Es war die Zeit in der eine Vielzahl von religiösen Laienbewegungen entstand, aber auch die erste große „Ketzerbewegung“ der Katharer in Südfrankreich.
Im Frankreich des 12. Jahrhunderts entstehen die ersten Bewegungen, welche die Armut als Kennzeichen christlicher Existenz in den Mittelpunkt stellen. Sie sind in der ersten Zeit von Geistlichen getragen, die zugleich als Wanderprediger auftreten. In ihnen spricht sich die Orientierung am Ideal des Lebens Jesu und der Apostel ebenso aus wie eine Kritik an der Kirche, ihrem Reichtum und ihrer Verweltlichung.
In diesen Zusammenhang gehört die Bewegung der Waldenser. Ihr Initiator ist Petrus Waldes (Pierre Valdes), ein wohlhabender Kaufmann aus Lyon. Inspiriert und ergriffen von der Geschichte des reichen Jünglings im Evangelium ändert er sein Leben. 1173 gibt er seinen Besitz auf und sammelt eine Gruppe von Menschen um sich, die seinen Lebensstil teilen.
Er lässt sich für den eigenen Gebrauch die Evangelien aus dem Lateinischen in die Volkssprache übersetzen. Mit seinen Gefährten zieht er nun als Laie umher und verkündet das Evangelium auf Straßen und Plätzen. Er betrachtet sich, in der Nachfolge Jesu, als einen Apostel wie es die Jünger Jesu waren und er bemüht sich darum, dass seine Sendung von der Kirche anerkannt und legitimiert wird.
1179 tagt das dritte Laterankonzil, das diese Anerkennung gewährt, aber die Predigttätigkeit an die bischöfliche Genehmigung vor Ort bindet. Genau an diesem Punkt aber kommt es zu Auseinandersetzungen mit den örtlichen Bischöfen, in deren Folge die Bewegung 1184 vom Papst verurteilt wird. Vermutlich 1205 stirbt Waldes.
Durch das Verbot wird die Bewegung, die sich in Frankreich, Norditalien, Österreich, Deutschland und Böhmen ausbreitet, in den Untergrund gedrängt. Nun wird auch die Kritik an der Kirche schärfer. Diese wiederum verfolgt die Waldenser, die sie als Ketzer ansieht, mit den Mitteln der Inquisition.
"UND ER HOB SEINE AUGEN AUF ÜBER SEINE JÜNGER UND SPRACH:
SELIG SEID IHR ARMEN DENN DAS REICH GOTTES IST EUER"
(Lukasevangelium 6,20)
"UND ER HOB SEINE AUGEN AUF ÜBER SEINE JÜNGER UND SPRACH:
SELIG SEID IHR ARMEN DENN DAS REICH GOTTES IST EUER"
(Lukasevangelium 6,20)
Kennzeichen waldensischen Lebens sind:
Predigttätigkeit durch Laien, Orientierung an den Evangelien, ein Leben in Armut. Die Verpflichtung nicht zu lügen, keinen Eid zu leisten - im Sinne des Jesus-Wortes: „Ihr sollt nicht schwören … Eure Rede sei Ja, Ja und Nein, Nein. Alles, was darüber ist, ist von Übel.“ Abgelehnt wird die Vorstellung des Fegefeuers und die Beichte wird (ohne Priester) untereinander geübt.
Für Steyr ist die Existenz von großen Gruppen der Waldenser für die Jahre 1311 und 1397 ausdrücklich bezeugt. Für diese Jahre berichtet der Chronist Valentin Preuenhueber von Verfolgungen durch die Inquisition und in der Folge von Hinrichtungen. Hier sei sein Bericht für das Jahr 1397 zitiert:
„Demnach vor Zeiten die Waldenser aus Frankreich und Flandern verjagt, in Teutschland gefallen, und allda, in ausbreitung ihrer Lehre, einen grossen Anhang, sonderlich in Behaimb und Oesterreich, über-kommen, als seynd dieselben auch hieher, in die Stadt Steyr gerathen. Was nun gegen sie An. 1311 vorgenommen worden, davon ist droben an seinen Ort gedacht worden;
Ungeachtet solcher Execution aber, haben besagte Waldenser um diese Zeit noch mehr überhand genommen. Davon meldten die Annales des Closters Garsten: Daß, nachdem Anno 1395 Herzog Albrecht zu Oesterreich, einen Coelestiiner-München, Fr Petrus genannt, in Oesterreich berufen, und im Bißthum Passau das Officium Inquisitionis ihme anbefohlen worden, so seyen hierauf Anno 1397 durch solche Inquisitionem haereticae pravitatis (Untersuchung der ketzerischen Verkehrtheit, Anm. Lehner) in der Stadt allhie zu Steyer mehr denn tausend Persohnen eingezogen, etliche das Zeichen des Creutzes zu tragen verurtheilet, viele aber, sowohl Manns- als Weibs-Persohnen, dem weltlichen Gerichte übergeben, theils in ewige Gefängnisse gelegt, achtzig bis hundert aber auf der Weyde oder Au, im Früren-Thal (so anjetzo eine schöne Wiese untern Puechholtz ist) auf Befehl des Landes-Fürsten, von denen Bürgern zu Steyer verbrennet worden; Daher der Ort um selbige Revier noch auf den heutigen Tag der Ketzer-Freudhoff genennet wird.“
Preuenhueber, Annales Styrenses
Die starke Präsenz der Waldenser in Steyr und ihr Wirken im Untergrund sind Teil der Geschichte Steyrs, an welche die Reformation zwar nicht direkt anknüpft, die aber im kollektiven Gedächtnis weiterwirkt und die die Bereitschaft zur Aufnahme der Reformation gefördert hat.
1517! Und Heute? Steyr 2017. Reformationsstadt Europas - Dokumentation zur Sonderausstellung im Museum der Stadt Steyr vom 24. März bis 5. November 2017.