Alfred Kubin
Biografische Verluste und fantastische Kunst
Alfred Kubin, dessen Vater Landvermesser war, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Salzburg und Zell am See. Geboren wurde er am 10. April 1877 in
Leitmeritz in Böhmen. 1887 starb seine Mutter. 1892 bis 1896 machte er eine Fotografenlehre in Klagenfurt, 1898/99 folgte ein Kunststudium in München, das er jedoch abbrach. Kubin blieb aber in der bayerischen Hauptstadt und fand rasch Anschluss an die örtliche Bohème. 1907 starb der Vater.
Nach der Begegnung mit Max Klingers Radierzyklus Paraphrase über den Fund eines Handschuhs durchlebte der junge Künstler von 1899 bis 1903 einen veritablen Schaffensrausch – einen „Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder“, wie er selbst schreibt. Bald erwarb er sich in der Kunstszene einen Ruf als Tuschfederzeichner und Buchillustrator, spezialisiert auf fantastische, groteske wie allegorische Sujets – ein „Organisator des Ungewissen, Zwitterhaften, Dämmerigen, Traumartigen“ (Brief vom 9. Jänner 1908). Zahlreiche Ausstellungen folgen.
Kubin hat zeit seines Lebens tausende Zeichnungen angefertigt, ca. 60 literarische Werke (unter ihnen von Edgar Allen Poe, Fjodor Dostojevski, Gérard de Nerval und E. T. A. Hoffmann) illustriert sowie etliche Kunstbände und Mappenwerke mit Druckgrafiken veröffentlicht .
‚Splendid Isolation’ im Innviertel
1906 verlegte Kubin seinen Wohnort nach Zwickledt bei Wernstein am Inn in Oberösterreich. Hier lebte er bis an sein Lebensende zusammen mit Hedwig Gründler, der Schwester des Schriftstellers Oscar A. H. Schmitz, die er 1904 geheiratet hatte. Regional wurde sein Werk aber aber auch durch seine Liebe zum Böhmerwald und zum Bayerischen Wald beeinflusst.
1909 beteiligt sich Kubin zusammen mit Wassily Kandinsky und anderen an der Gründung der Neuen Künstlervereinigung München, der Vorgänger-Organisation des Blauen Reiters, und nahm 1911 auch an dessen erster Ausstellung teil. 1912 began Kubins Mitarbeit an der Satire-Zeitschrift Simplicissimus, die bis zur Einstellung des Blatts 1944 anhielt.
1931 entwarf Kubin das Bühnenbild zu Richard Billingers Drama Rauhnacht für dessen Uraufführung an den Münchner Kammerspielen. Unter den weiteren Freunden und Korrespondenten des zunehmend zurückgezogenen Künstlers finden sich neben Fritz von Herzmanovsky-Orlando etwa auch Ernst Jünger, Hans Carossa und Hans von Müller.
Nationalsozialismus und Spätwerk
Die Position des ‚unpolitischen Menschen‘ Kubin in der Zeit des Nationalsozialismus ist ambivalent bis opportunistisch. Zwar werden 1936 seine 20 Bilder zur Bibel verboten; weitere Publikationen können jedoch erscheinen und auch Ausstellungen finden statt. Während des Zweiten Weltkriegs entwickelt der Künstler indes eine allegorische Bildsprache zu einer verklausulierten Auseinandersetzung mit der deutsch-österreichischen Katastrophengeschichte im 20. Jahrhundert, die einige Interpreten bereits „prophetisch“ in Kubins Roman Die Andere Seite vorweggenommen sehen.
1947 wird Kubin Ehrenbürger der Stadt Linz, 1949 von Schärding. Weitere nationale und internationale Preise folgen wie z. B. 1957 das Österreichische Verdienstkreuz für Wissenschaft und Kunst.
Alfred Kubin stirbt 1959 in Zwickledt.
Postum und heute
Kubin gilt als der wohl bedeutendste österreichische Zeichner, Buchillustrator und Druckgrafiker in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch auch sein Roman hat wichtige literarische Impulse ausgesendet.
Seit 1962 gibt es in Zwickledt die „Kubin-Gedenkstätte“ (von den Oberösterreichischen Landesmuseen betreut seit 1992). 1964 wurden Werke Kubins postum auf der Documenta III in Kassel gezeigt. Seit 1977 ist ein Platz im 22. Wiener Gemeindebezirk nach dem Künstler benannt.
Zurzeit besitzen die Oberösterreichischen Landesmuseen in Linz die weltweit größte Sammlung von Kubin-Arbeiten. Zusammen mit dem Kulturpreis des Landes Oberösterreich wird seit einiger Zeit auch ein Alfred-Kubin-Preis verliehen.
Kubins einziger Roman
Nach einer depressiven Schaffenskrise – Auslöser ist der Tod seines Vaters – verfasste das Doppeltalent Kubin 1908/09 in nur wenigen Wochen seinen ersten und einzigen Roman und versah ihn mit eigenen Illustrationen (von denen einige schon vor dem Text entstanden sein dürften). Dabei herausgekommen ist Die andere Seite: ein fantastischer Schlüsseltext der Jahrhundertwende und trotz seiner insulären Stellung im Gesamtwerk Kubins das wohl herausragendste deutschsprachige Beispiel für eine dystopische Untergangsliteratur um und nach 1900.
Lange Zeit als trivialer Abenteuerroman abgetan, ist dieser Text gleichsam subkutan in der Literaturgeschichte wirksam, zumal er Positionen und Motive Franz Kafkas wie auch später Hermann Kassacks und Christoph Ransmayrs vorbereitet. Heute liest er sich als Kompendium des Fin de siècle, indem er zentrale ‚dekadente‘ Themen der Frühmoderne wie etwa Ich und Es, Träume und das Unbewusste, Massen und ihre Manipulation, Sexualität und Geschlecht aufgreift.
Das (Alp-)Traumreich und sein Herrscher
Die Andere Seite erzählt in Form einer negativen Utopie die fiktive Emigration des Ich-Erzählers – wie Kubin Zeichner von Beruf – und seiner Frau ins geheimnisvolle ‚Traumreich‘ in Zentralasien. Dieses ist von seinem Schulkameraden Claus Patera gegründet worden und wird seither auch von ihm unsichtbar, mit offenkundig hypnotischen, wenn nicht gar magischen Kräften ‚beherrscht‘. Im künstlichen Staat ist freilich alles ‚second-hand‘: Wie ein Sammler hat Patera (in dessen Namen sich schon die mysteriöse Vaterfigur verbirgt, die er augenscheinlich ist) düstere alte Gebäude ohne ersichtlichen Wert – meist Schauplätze von Bluttaten – in Europa aufgekauft, um sie abreißen zu lassen und im Traumreich wieder aufzubauen. Kaum ein Gegenstand des täglichen Lebens ist jünger als von 1860, und auch die Einwanderer sind augenfällig nach den Gesichtspunkten einer zeitgenössischen Pathologie ausgesucht worden: ein auffälliges körperliches Merkmal oder aber psychische Abnormität qualifiziert sie dazu, von Patera ‚erwählt‘ zu werden. Über ihnen wölbt sich ein immergrauer Himmel, denn die Sonne scheint nicht im Traumreich. Die Verwaltungsstruktur ist labyrinthisch und undurchsichtig, aber „die wahre Herrschaft liegt woanders“; dafür regeln seltsame Rituale wie der „große Uhrbann“ den Alltag, in dem immer wieder Unheimliches geschieht.
„Im großen und ganzen war es hier ähnlich wie in Mitteleuropa und doch wiederum sehr verschieden“, lautet das Urteil des Protagonisten.
Dieses rückwärtsgewandte Refugium von Moderne-Verweigerern ist damit alles andere als ein utopischer Musterstaat, sondern eher – obschon mit gewissen humoristischen Zügen – ein stein- und fleischgewordener grotesker Alptraum; vielleicht ist aber die Andere Seite genau das und der Zeichner hat seine Heimatstadt München nie verlassen? Eine erste mögliche Interpretation.
Alteuropa + Moderne = Weltuntergang
In Perle, der Hauptstadt des ‚Traumreichs‘, ist also alles nur Fassade, hinter der Patera wie ein Marionettenspieler seine Fäden zieht. Dies ändert sich mit der Ankunft des amerikanischen Kapitalisten Herkules Bell, der gleichsam die Aufklärung ins Traumreich bringt, indem er die Bewohner immer mehr zur Aufsässigkeit gegenüber ihrem Herrscher aufstachelt und das altmodische, antidemokratische Staatsgefüge in Frage stellt.
Die Konsequenz ist das Ende des Traumreiches, das sich als eine Mischung aus bürgerkriegsähnlichem Umsturz und übernatürlichem Weltuntergang vollzieht, den nur wenige Figuren überleben werden – eine Orgie aus Sex, Gewalt und Zerstörung, flankiert von Naturkatastrophen. Mit diesem Szenario zeigt sich Kubin als Kenner einer Kunstgeschichte der Apokalypse, die ja zu Zeiten des Expressionismus eine neue Konjunktur erleben wird. In einem suggestiven Schlusstableau des Romans werden Bell und Patera eins. Der Ich-Erzähler entdeckt, „daß mein Gott nur eine Halbherrschaft hatte. Im Größten wie im Geringsten teilte er mit einem Widersacher, der Leben wollte. Die abstoßenden und anziehenden Kräfte, die Pole der Erde [...], die Wechsel der Jahreszeiten, Tag und Nacht, schwarz und weiß – das sind Kämpfe. Die wirkliche Hölle liegt darin, daß sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt. Die Liebe selbst hat einen Schwerpunkt ‚zwischen Kloaken und Latrinen’. Erhabene Situationen können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen.“
Interpretationen der Anderen Seite
Die Faszination, die Die andere Seite bei ihren Lesern auslöst, hängt damit zusammen, dass sie eine fantastische Allegorie ist, die zu ihrer Deutung ihrer halluzzinierenden Symbolwelten herausfordert. Aus dem einfach geschriebenen Text lösen sich so eine Unzahl von Interpretationsmöglichkeiten heraus: Zum einen stellt der Roman eine literarische Verarbeitung von Kubins aus unterschiedlichsten Quellen zusammengelesener manichäischer Lebensphilosophie dar, wie dies die oben zitierte esoterische Schlussbotschaft nahelegt. Zum anderen ist er eine biografische Verarbeitung Kubins eigenem Vaterverlust und eine Satire auf die im Niedergang befindliche altmodische Habsburgermonarchie, hat doch die (kolonialistische!) Welt Pateras explizit österreichische bzw. zentraleuropäische Züge, auch wenn sie in den Tiefen Asiens angesiedelt ist. Dabei scheinen jedoch weder das altmodische Traumreich noch eine Moderne amerikanischen Zuschnitts eine brauchbare Arbeitshypothese für eine bessere Welt zu sein (auf die Tradition des utopischen bzw. dystopischen Romans wurde bereits hingewiesen).
Ebenso aber ist Die Andere Seite ein Kunst- und Künstlerroman, der selbstreflexiv in der Schöpferfigur Pateras und dessen Chronisten, dem Zeichner, Fragen nach der Erschaffung imaginärer (grotesker) Welten stellt und sich damit als eine Art ästhethtisches Programm Kubins lesen lässt. Gleichwohl lässt der Text aber durchaus auch eine psychoanalytische Interpretation als Traum und Visualiserung des ‚Unbewussten‘ zu – obwohl Kubin persönlich Freud hasste.
All diese Lesarten sind nun ‚richtig’, aber nicht in der Lage, das Mysterium des Textes vollständig und erschöpfend zu erklären. Irgendwie ergeht es ihnen allen wie jenen Bauvorhaben auf dem Sumpfland der so genannten Tomassevicfelder in Perle, über die es heißt: „Nicht einmal unter Dach, wurden die Bauten Ruinen.“
Es gehört zur Qualität dieses Stücks fantastischer Literatur aus Oberösterreich, dass es all die Deutungsversuche in den Malstrom seiner traumartigen Rätselhaftigkeit hineinzieht, um sie ebenso zu betätigen wie zu unterminieren. Und genau das macht den Reiz der Anderen Seite aus, die man immer wieder aufs Neue lesen kann, um wie in einem Vexierbild – oder: wie im Strichgewirr der Kubinschen Zeichnungen – immer wieder etwas Neues zu entdecken.
Autor: Clemens Ruthner, 2011