Marlen Haushofer
Prägende Kindheit
Marlen Haushofer wurde am 11. April 1920 als Maria Helene Frauendorfer in Frauenstein (Gemeinde Molln) geboren. Ihre Kindheit als Tochter eines Försterehepaars im Effertsbachtal am Fuße des Sengsengebirges wurde als prägende Lebensphase – von der Grunderfahrung des Verlusts bis in biografisch verbürgte Details – für ihr gesamtes Werk bedeutsam. Trotz dem strengen Regiment ihrer Mutter erlebte Marlen ihre Kindheit gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder Rudolf als eine Zeit der relativen Freiheit.
Der Eintritt ins Internat der Ursulinen in Linz bedeutete für die Zehnjährige zunächst einen Schock. Haushofer verlor ein Jahr wegen einer TBC-Infektion und maturierte 1939 im bereits gleichgeschalteten NS-Schulsystem in der Schule der Kreuzschwestern.
Unmittelbar danach absolvierte sie den Reichsarbeitsdienst in Ostpreußen. Dort lernte sie den Vater ihres ersten Kindes kennen, einen deutschen Medizinstudenten, der sein Studium in Wien fortsetzte, wo Haushofer ab Jänner 1940 Germanistik und Kunstgeschichte studierte. Die Beziehung ging noch während der Schwangerschaft in die Brüche. Marlen Haushofer brachte ihren Sohn Christian heimlich in Bayern zur Welt, wo er bei der Mutter einer Freundin aufwuchs. Davor noch war sie in Wien dem aus Graz stammenden Medizinstudenten Manfred Haushofer begegnet, der, unbeirrt durch ihren ‚Fehltritt‘, um ihre Hand anhielt. 1941 heirateten die beiden in Frauenstein, 1943 wurde der gemeinsame Sohn Manfred geboren. Die Eltern übersiedelten nach Graz, wo Haushofer ihr Studium zunächst fortsetzte. Erst nach Kriegsende holten sie den Erstgeborenen zu sich.
Erste literarische Arbeiten
Marlen Haushofer brach ihre Dissertation ab und begann Erzählungen zu schreiben. 1946 erschien ihre Geschichte Die blutigen Tränen im Linzer Volksblatt, vermutlich ihre erste Publikation. 1947 übersiedelte die Familie nach Steyr, wo Manfred Haushofer eine Stelle als Leiter eines Zahnambulatoriums gefunden hatte. Marlen Haushofer unternahm regelmäßige Fahrten nach Wien, wo sie Anschluss an die literarische Szene suchte. Sie gehörte zunächst dem Kreis um Hermann Hakel (Herausgeber der Zeitschrift Lynkeus) an, wechselte dann aber – wie auch ihre Kolleginnen Ingeborg Bachmann (1926–1973), Ilse Aichinger (geb. 1921) und Hertha Kräftner (1928–1951) – zu Hans Weigels Runde im Café Raimund. Im Jahr 1950 ließ Haushofer sich von ihrem Mann scheiden – die Affären des nunmehr niedergelassenen Zahnarztes waren in Steyr stadtbekannt. Das Ehepaar trennte sich jedoch nicht, man hielt die Scheidung geheim, auch vor den Söhnen.
Erste Romane
Ihre beiden ersten Romane veröffentlichte Haushofer auf Anraten Hans Weigels nicht, sie sind verschollen. 1952 publizierte sie die lange Erzählung Das fünfte Jahr, eine Geschichte aus der Sicht einer Fünfjährigen, die bei ihren Großeltern auf dem Land aufwächst. Prompt erhielt Haushofer dafür den Kleinen Österreichischen Staatspreis. 1955 erschien, unter dem Beifall der Kritik, der Roman Eine Handvoll Leben bei Zsolnay: Eine Frau kehrt in ihre Heimatstadt zurück und besichtigt dort jenes Leben, aus dem sie zwanzig Jahre zuvor, einen Selbstmord vortäuschend, ausgebrochen ist. In einer Rückblende zeigt Haushofer den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens in der Klosterschule, die Sehnsucht der Heldin Elisabeth nach einer Familie und die folgende Ernüchterung. Elisabeth geht ein Verhältnis mit einem Geschäftsfreund ihres Mannes ein und stiehlt sich dann davon, wobei sie ihren kleinen Sohn zurücklässt. Im Rückblick sieht sie – wie Albert Camus’ „absurder Mensch“ – jede ihrer Optionen zum Scheitern verurteilt.
In ihrem 1957 publizierten Roman Die Tapetentür lässt die Autorin ihre Protagonistin gleichsam den umgekehrten Weg beschreiten: von der Existenz einer emanzipierten Frau in die Abhängigkeit einer Leidenschaft. Haushofer führt die stufenweise Selbstdemontage der Bibliothekarin Annette in ihrer Liebe zum vitalen Macho Gregor vor, einem Anwalt, der seine schwangere Frau schon in den ersten Monaten ihrer Ehe betrügt. Halb bewusst, halb unbewusst lehnt Annette das Kind, das sie erwartet, als einen unumkehrbaren Schritt in die Unfreiheit ab und verliert es folgerichtig bei der Geburt. Sie verliert damit auch Gregor; der Schluss bleibt als Ausgangspunkt für eine mögliche Genesung offen.
Beschreibung trügerischer Glätte
1958 heiratete Haushofer ihren (Ex-)Mann ein zweites Mal, nachdem eine Beziehung mit dem Wiener Schriftsteller Reinhard Federmann gescheitert war. Im selben Jahr kam die Novelle Wir töten Stella im Bergland-Verlag heraus, in der die Familie als tödliche Falle funktioniert: Die Titelheldin, ein junges Mädchen, ist zu Gast bei der Familie eines Anwalts, der sie verführt, schwängert und in den Selbstmord treibt. Erzählt wird die Geschichte von dessen Frau, die dem Treiben untätig zuschaut, um den häuslichen Frieden zu wahren und ihren Sohn zu schützen, und so mitschuldig am Tod Stellas wird.
Haushofers Opfer sind selten ohne Makel. Die beklemmende Beschreibung einer klaustrophobischen Kleinstadt-Situation gilt auch der trügerischen Glätte des Neuanfangs nach Krieg und Nazidiktatur, die Haushofer ähnlich in ihren Hörspielen verarbeitete. Sie sah sich als Spezialistin für den doppelten Boden der ehrenwerten Gesellschaft: „gerade diese Mischung von Dämonie u. Idylle [...] bereitet mir das größte Unbehagen und fasziniert mich zugleich.“
„Die Wand“
Nach Jahren in beengten Wohnverhältnissen bezog die Familie 1960 den ersten Stock eines Hauses mit Garten. Hier machte Haushofer sich an die Niederschrift des Romans Die Wand, in dem sie einmal mehr auf die Szenerie ihrer Kindheitswelt zurückgriff. Die Geschichte einer Frau, die sich nach einer mysteriösen Katastrophe durch eine durchsichtige Wand von der Zivilisation getrennt sieht und sich mit Hund, Katze und Kuh im Wald durchschlagen muss, polarisierte bei ihrem Erscheinen 1963 im Mohn-Verlag die Kritik. Edwin Hartl bezeichnete das Buch als „vermutlich die originellste Utopie der modernen Weltliteratur: weil sie es wagt, auf alles ‚Originelle‛ zu verzichten“. Hans Weigel verglich es mit Albert Camus’ Die Pest und Daniel Defoes Robinson Crusoe. Andere stießen sich am Atheismus und der Selbstgenügsamkeit der Protagonistin. Im Gegensatz zu Haushofers übrigen Heldinnen gelingt der Ich-Erzählerin in der Wand tatsächlich die Befreiung von gesellschaftlichen Fesseln – freilich um den Preis der Ausrottung der Menschheit. Die männliche Welt der Aufrüstung, die die Wand hervorgebracht hat, wird (von der Autorin) mit alttestamentarischer Härte bestraft. Die Wand ist eine Parabel der Existenz, aber auch eine Reaktion auf den Kalten Krieg.
Kinderbücher
Ein Jahr nach Die Wand erschien Bartls Abenteuer. Ein Katzenbuch, das erste von insgesamt fünf Kinderbüchern, mit denen Haushofer zu einer wichtigen Exponentin der österreichischen Kinderliteratur wurde. Es folgte Brav sein ist schwer (1965), das bald zu einem Kinderbuchklassiker avancierte. In den Buben Fredi und Buz, die ihre Sommerferien bei den Großeltern auf dem Land verbringen, portraitierte Haushofer ihre Söhne, im geliebten Großvater ihren Vater. Die mit einigem Witz erzählte Geschichte tradiert einerseits das Idealbild der 1960er Jahre vom ‚braven Kind‘, spielt aber andererseits die autoritären Erziehungsmethoden der Eltern gegen die natürliche Autorität des Großvaters aus. In den unternehmungslustigen kleinen Cousinen Micky und Lise unterläuft sie geschlechterspezifische Rollenklischees.
Erzählungen
In dem nur scheinbar heiteren Roman Himmel, der nirgendwo endet (1966) erzählt Haushofer aus raffiniert gewählter naiver Perspektive die Geschichte ihrer eigenen Kindheit im Forsthaus, zwischen der bigott-strengen Mutter und dem gütigen, aber jähzornigen Vater. Nach abermaligem Verlagswechsel erschien ihr nächstes Buch, ein Erzählband, 1968 unter dem Titel Schreckliche Treue bei Claassen und fand größere Resonanz als der Kindheitsroman. Der Autorin wurde dafür zum zweiten Mal der Kleine Österreichische Staatspreis zuerkannt. In diesen Erzählungen erreichte Haushofers Kunst, in der Banalität des Alltags die Abgründigkeit des Daseins mit unsentimentaler Lakonik bloßzulegen, einen Höhepunkt.
Ende 1968 wurde bei Haushofer ein fortgeschrittener Knochenkrebs im Hüftgelenk diagnostiziert.
„Die Mansarde“
Bereits schwer krank arbeitete sie an der Fertigstellung ihres letzten Romans, für dessen Niederschrift sie nur neun Monate brauchte. Die Mansarde erschien 1969 und stieß auf geteilte Reaktionen. In diesem Roman hat die Autorin ihre eigenen Lebensumstände so unverdeckt nachgedichtet wie nirgendwo sonst: Die Ich-Erzählerin ist eine Hausfrau und Mutter, der die künstlerische Begabung, ihr Zeichentalent, zum Lebens-Mittel wird. Die Mansarde bildet den virtuellen Raum des bürgerlichen Hauses, dessen vier Wände nur die Zuflucht nach oben erlauben. Zugleich lässt sich Die Mansarde als eine Art Fortsetzung der Novelle Wir töten Stella lesen: Haushofer erzählt die Geschichte einer Ehe, die vor Jahren durch einen Verrat des Mannes (einmal mehr eines Anwalts) an seiner plötzlich taub gewordenen Frau ihr Fundament verloren hat und nur noch ihre Fassade pflegt. Der Fluchtversuch der Erzählerin vor den Anforderungen einer bürgerlichen Umwelt in die Taubheit ist gescheitert und war mit der unfreiwilligen Trennung von ihrem kleinen Sohn verbunden, ein Thema, mit dessen traumatischen Konsequenzen Haushofer sich obsessiv befasste. In ihrem letzten Roman verbindet sie unerbittlichen Scharfblick und satirischen Witz mit einer resignativen Nachsicht, v. a. gegenüber dem männlichen Widerpart. Der Schluss – der Protagonistin gelingt die Zeichnung eines Drachen – eröffnet hier einen utopischen Raum ohne Happy End.
Marlen Haushofer starb am 21. März 1970 in einem Wiener Spital. Ihr letztes Werk, das Kinderbuch Schlimmsein ist auch kein Vergnügen, wurde postum veröffentlicht.
Widersprüche
Der Große Österreichische Staatspreis blieb Haushofer zeitlebens ebenso versagt wie ein Preis des Landes Oberösterreich. Die Germanistik hat die Radikalität von Haushofers Literatur lange verkannt und sich, wie ein Teil der Kritik, vom Konventionellen der Darstellung wie des Dargestellten irreleiten lassen. Als Schreibende am Küchentisch so etwas wie die Gegenfigur zu Ingeborg Bachmann, ist es Marlen Haushofer gelungen, die gesellschaftlichen Widersprüche der ersten Nachkriegsjahrzehnte wie auch die Widersprüche der eigenen Existenz zwischen Provinz und Hauptstadt, zwischen Zahnarztsgattin und Künstlerin, für ihr Werk produktiv zu machen. Haushofers dem Existentialismus verpflichtete Analyse weiblicher Lebenswirklichkeit im bürgerlichen Familienarrangement der Wiederaufbauzeit wurde erst von der Frauenbewegung der 1980er Jahre gewürdigt. Ihr war Haushofers heilloser Pessimismus freilich ebenso suspekt wie vielen religiösen Zeitgenossen.
| Werke von Marlen Haushofer (Auswahl) |
|---|
| Die Mansarde |
| Wir töten Stella |
| Schreckliche Treue |
| Schlimm sein ist auch kein Vergnügen |
Autorin: Daniela Strigl, 2011