STANDPUNKT: "Denn es werden noch sehr grosse unglück und plagen über die welt komen, das deren ihre eigene vorgehende zeichen haben werden, als erdbebung, cometen und sonst grosse zeichen."
Der Antichrist
Ebenso wie Martin Luther war auch Stifel überzeugt, der Papst sei der prophezeite Antichrist, das große Tier, dessen Zahl 666 ist. Mit der aus der jüdischen Geheimlehre Kabbala stammenden Methode der Wortrechnung versuchte er diese Theorie zu beweisen. Dabei sucht man z. B. aus lateinischen Worten die Buchstaben aus, die auch Zahlen bedeuten (I=1, V=5, X=10…). In der Kabbala hat die Zahl 6 eine unheilvolle Bedeutung, dreimal sechs bedeutet dreimal wehe.
Um den Papst Leo (1513 - 1521) als Tier 666 entlarven zu können, wandte Stifel mehrere heute absurd erscheinende Verfahren an. Stifel zählte LEO DECIMUS aus und erhielt MDCLVI (1656). Um auf die gewünschte Zahl des großen Tieres zu kommen, nahm er M als Anfangsbuchstaben des Wortes Mysterium weg und fügte X für die Zahl der Buchstaben in Leo Decimus hinzu. So kam er schließlich auf DCLXVI (666). Auch von der Summe aus "Sed ecce Leo Papa", "Ecce bestia magna" oder "Leo et drago" leitete er die Zahl 666 ab.
Die Berechnung des Weltunterganges
Wie viele andere ihrer Zeit waren Luther und Michael Stifel überzeugt, die letzten Tage stünden bevor. Während Luther jedoch meinte, Christus könne zu jeder Stunde wiederkommen, versuchte Stifel mit Hilfe der Wortrechnung das genaue Datum zu finden. Im Jahr 1532 erschienen zwei Schriften Stifels: "Ein Rechenbüchlein vom Endchrist, Apokalypsis in Apokalypsim" und "Von End der Welt". Im "Rechenbüchlein" sagt er den Weltuntergang nur voraus, in "Vom End der Welt" ging er von dem Satz "Videbunt in quem transfixerunt" (Sie werden sehen, wen sie durchbohrt haben = Jesus) aus Johannes 19, 37 in der Vulgata aus. Der Zahlenwert dieses Satzes ergab VIDeb Vnt In qVeM transfIXerVnt, umgeordnet: MDXVVVVIII= MDXXXIII= 1533. Der 19. Oktober musste es wegen der stark belasteten Zahl 42 (7x6) sein und dadurch, dass es ein Sonntag sein musste (42. Sonntag im Jahr= 19. 10. 1533). Luther lehnte diese Rechnung rigoros ab, es kam zu einem heftigen Streit mit Stifel, im Zuge dessen er Luther als Herodes und Pilatus beschimpfte.
19. 10. 1533
Stifel hatte sich durch Luthers Zweifel nicht hindern lassen, in seiner Gemeinde Lochau (heute Annaburg) vom Weltuntergang zu predigen und seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Viele Bauern bestellten ihre Felder nicht mehr, verkauften ihr Hab und Gut und verzechten alles. Auch Stifel verschenkte seine Bücher und seinen Hausrat, es soll sogar zu einigen Selbstmorden gekommen sein. In diesen Tagen nahm Stifel fast unaufhörlich die Beichte ab.
Am Morgen des "Jüngsten Tages" ließ Stifel das Vieh aus dem Ort treiben, da dieses laut Verkündigung zuerst sterben müsse. Die Hörner der Viehhirten sollen manche schon für die Posaunen des Jüngsten Gerichtes gehalten haben. Man begab sich in die Kirche und Stifel begann zu predigten, er endete mit den Worten: "Der Herr wird kommen, kommen, kommen!". Inzwischen war ein schweres Gewitter aufgezogen, das man für den nahenden Weltuntergang hielt.
Das Gewitter ging vorbei, 8 Uhr Früh ging vorbei, doch der Weltuntergang fand nicht statt.
Kurz darauf trafen kurfürstliche Beamte ein und brachten ihn nach Wittenberg in Schutzhaft.
Martin Luther, der trotz des Streites treu zu Michael Stifel stand und seine falsche Prophezeiung mild als "Anfechtlein" bezeichnete, setzte sich für den Freund ein und erwirkte seine Entlassung. Der Kurfürst soll für den entstandenen Schaden aufgekommen sein.
Stifel kehrte verständlicherweise nicht mehr nach Lochau zurück. In Wittenberg begrüßten ihn die Studenten mit dem Spottlied: "Stifel muss sterben, ist noch so jung, jung, jung." Auch die Redewendung "einen Stiefel rechnen" und später "einen Stiefel trinken" gehen angeblich auf Michaels Stifels falsche Prophezeiung zurück.
Autoren: Irene und Christian Keller, 2010
Die Jörger von Tollet und ihre Zeit. Glaube, Macht und Untergang eines protestantischen Adelsgeschlechtes - Dokumentation zur Sonderausstellung im Schloss Tollet im Zuge der OÖ. Landesausstellung 2010.