Die Erdställe
Der Zweck der Erdställe

Der Zweck der Erdställe ist umstritten und spaltet die Erdstallforscher in zwei Lager. Die einen hängen den verschiedenen Kulttheorien an, die anderen sehen die Erdställe vorwiegend als Fluchträume.

Die Kulttheorien
Erdställe als Leergräber

Schwarzfischer Karl, ein deutscher Erdstallforscher, meint, dass die Erdställe oft die Namen von Zwergen (Schratzellöcher) trugen. Zwerge waren aber in alter Zeit als Haus- und Totengeister (Seelen der Toten) bekannt, die den Menschen im Haus halfen. Oft findet man in Verbindung mit Erdställen auch Zwergensagen, wie sie für natürliche Höhlen auch nachweisbar sind. Schwarzfischer hält die in den Schächten der Erdställe gefundenen Essensreste und Scherben für Kultgaben für diese Totengeister. Er sieht die Erdställe nicht als echte Grabstätten, sondern als Leergräber. Diese hätten die neuen Siedler in unserer Gegend um 1000 angelegt, um noch eine Verbindung zu ihren zurückgelassenen Toten zu haben. Man soll geglaubt haben, dass man diese nach Bau des Erdstalles in diese neue Wohnung rufen könnte, von wo aus sie Haus und Familie schützten.

Erdställe als Orte von Durchschlupfbräuchen, Seelenwäsche und Initiationsriten
Andere Vertreter der Kulttheorie wie Regine Glatthaar meinen, mit den Erdställen sei ein ganzer Kultkomplex verbunden gewesen. Die engen Schlupfe würden auf einen Abstreifkult (Durchschlupfbrauch) verweisen, bei dem man annahm, dass der enge Kontakt mit der Erde ermögliche, körperliche Leiden "abzustreifen". Auch "Seelenwaschanlagen", die dazu dienten Schuld abzustreifen, werden angenommen.
Gerade für Initiationsriten wären Erdställe geeignet. Man könnte in ihnen Todes- und Geburtserfahrungen machen und so zu spirituellen Erkenntnissen kommen, meinen andere. Ob dies nun Riten für Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden oder für Priester gewesen wären, bleibt offen.
Alle Vertreter dieser Theorien betonen die Gefühle von Geborgenheit und einer fast religiösen Andacht, die sie in Erdställen empfunden hätten. Ebenso weise die "sakrale" Bauweise der Erdställe mit Spitzbögen und Nischen auf kultische Zwecke hin. Auch hätte man für religiöse Riten am ehesten die Schwerstarbeit eines Erdstallbaues auf sich genommen.

Auch als Wohn- und Vorratsstätten sahen manche die Erdställe
So wird zum Beispiel auf Tacitus verwiesen, der meinte, die Germanen "…pflegen auch unterirdische Höhlen auszugraben und beschweren diese mit einer starken Dungschicht als sichere Zuflucht im Winter und als Aufbewahrungsort für Feldfrüchte. Solche Orte mildern die strenge Kälte, und dringt einmal ein Feind ein, so raubt er nur, was offen daliegt. Die Erdställe wären also Wohnungen und Vorratsräume gewesen."

Andere wieder sahen in den Erdställen Verstecke für Hausrat und Nahrungsmittel.

Die Fluchttheorie
geht davon aus, dass sich besonders Frauen und Kinder bei einem plötzlichen Überfall in einem Erdstall verstecken konnten. Der Einstieg war meist versteckt und konnte von oben getarnt werden, die notwendigen Lebensmittel hatte man mit. Räuber und Plünderer waren im Mittelalter eine große Gefahr, wie Quellen aus dieser Zeit berichten. Auch die Spuren in den Erdställen sprechen für eine Benutzung als Fluchtanlage. So fand man kleine Feuerstellen, Holzkohlen, Töpfe mit Hühnerknochen oder anderen Essensresten. In den Anlagen gibt es auch immer wieder Vorrichtungen zur Verriegelung, die von innen und außen zu bedienen waren. Es fanden sich auch Verschlusssteine oberhalb von senkrechten Schlupfröhren, mit denen man den Zugang verschließen konnte. Lag der Stein auf dem Loch, war es einer Person, die eindringen wollte, unmöglich den Stein zu entfernen. Die Verschlüsse waren von innen zu bedienen, man wollte sich also vor Eindringlingen von außen schützen. Die meisten Erdställe hatten Luftröhren, die steil nach oben führten. Außerdem waren sie mit Sitznischen und Bänken ausgestattet, auf denen man relativ bequem sitzen konnte.
Ein Überlebensversuch in einem Erdstall zeigte, dass es sehr wohl möglich ist, selbst mehrere Tage in einem solchen zu bleiben.

Die Erdställe als Zufluchtstätte für Kinder
Wenn der Erdstall tatsächlich für die Bewohner eines Bauernhofes oder einer Burg als Zuflucht bei Gefahr gedacht war, weshalb hatte er dann Engstellen, durch die Alte, Kranke oder Schwangere nicht kommen konnten? Vielleicht waren die Erdställe hauptsächlich für die Kinder gedacht, die den neuen Siedlern im Land das Überleben und der Kolonisation das Gelingen sicherten. Umherziehende Räuberbanden nahmen vermutlich gerne Kinder als Arbeitskräfte mit. Auch der Name der Erdställe in manchen Gegenden, nämlich Schratzellöcher, weist auf diese Möglichkeit hin. In unserem Dialekt wird das Wort "G´schratz" für Kind verwendet. Im Dialektwörterbuch heißt es "Schratt, Schratz,  lediges, uneheliches Kind, und „Schratzn- Antringa“ ist der Tauftrunk auf Kosten des Kindsvaters. Aus dem gleichen Wortstamm dürfte das Wort für die boshaften, gnomenhaften Waldgeister stammen, die als „Schratln“ bezeichnet werden.

Viele Fragen bleiben dennoch offen. Wer lehrte den mittelalterlichen Erdstallbauern ihre Kunst? Übernahmen sie die Form ihrer Erdställe von viel älteren Anlagen? Baute der besiedlungszeitliche Bauer den Erdstall in Eigenregie oder hatte er Auftrag dazu von seinem Herren, der ja meist auch seine Burg zusätzlich mit einem Erdstall sicherte? Oder bauten herumziehende Erdstall- Baumeister die Anlagen? Woher hatten diese dann ihr Wissen? Und zuletzt die entscheidende Frage: Was motiviert Menschen dazu, in monatelanger Schwerstarbeit unterirdische Anlagen mit Engstellen, Schlupflöchern und verwinkelten Gängen zu bauen?

Autoren: Irene und Christian Keller, 2010

Die Jörger von Tollet und ihre Zeit. Glaube, Macht und Untergang eines protestantischen Adelsgeschlechtes - Dokumentation zur Sonderausstellung im Schloss Tollet im Zuge der OÖ. Landesausstellung 2010.