Elend und soziale Revolution
Streiks, Hungerdemonstrationen, Arbeitslosigkeit und der Druck radikaler Strömungen machen soziale Reformen notwendig. Staatssekretär Ferdinand Hanusch setzt zwischen 1918 und 1920 mit Unterstützung von Wirtschaft und Industrie ein Reformpaket um: 8-Stunden-Tag, Betriebsrätegesetz, Urlaubsregelung, Arbeitsvermittlungsstellen, Arbeitslosenversicherung. Seine Reform wird zur Grundlage des modernen österreichischen Sozialstaates.
geb. 1866 in Oberdorf/Horni Vés, heute Tschechische Republik, gest. 1923 in Wien
geb. 1866 in Oberdorf/Horni Vés, heute Tschechische Republik, gest. 1923 in Wien
Der Sozialdemokrat Ferdinand Hanusch ist vom 30. Oktober 1918 bis zum Ende der Großen Koalition 1920 Staatssekretär für soziale Fürsorge. Sein Reformwerk umfasst 83 Gesetze und Verordnungen und dient vor allem dem Ziel, die Situation der Arbeiter und Angestellten in den Fabriken zu verbessern. Er wird wegen seiner fortschrittlichen Sozialgesetzgebung vielfach als „Vater“ der Sozialpolitik der Ersten Republik bezeichnet.
Soziales Netz
1918 fordern die Gewerkschaften die Erweiterung der Kranken- und Unfallversicherung auf alle Lohnarbeiter, Invaliden, Alten, Witwen und Waisen. 1920 kommen die Staatsbeamten in die Krankenversicherung (BVA). 1921 wird die Krankenversicherung von der christlichsozial geführten Regierung auf alle in einem Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnis stehenden Personen ausgedehnt. 1926 folgt das Angestelltenversicherungsgesetz. Eine Altersversicherung für Arbeiter wird noch in der Ersten Republik beschlossen, aber nicht mehr umgesetzt.
Sozialversicherung
Die Sozialversicherung erhält 1947 eine neue organisatorische Basis. Die Selbstverwaltung wird wieder eingeführt und der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger errichtet, der Unfall-, Kranken- und Pensionsversicherung vereint. 1956 tritt das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) in Kraft und bildet seither das „Leitgesetz“ mit zahlreichen Novellen und Anpassungen. Zusammen mit der Sozialpartnerschaft stellt es eine wichtige Stützte für den sozialen Frieden in Österreich dar.
Arbeitslosigkeit
Die Erste Republik hat ein Dauerproblem: die Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsvermittlungsstellen – Vorläufer der Arbeitsämter und des AMS – helfen aus, doch zunehmend fallen Langzeitarbeitslose aus ihrer Betreuung heraus („Ausgesteuerte“). Am Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1933 ist jeder Vierte arbeitslos! Dies ist unter anderem der Boden für die Radikalisierung in der österreichischen Politik und das Aufkommen des Nationalsozialismus.
Konsum in der Ersten Republik
Trotz wirtschaftlicher Stagnation und hoher Arbeitslosigkeit werden Konsum und Werbung zu einem wichtigen Bestandteil der Lebenswelt der Ersten Republik. Neben Zeitungen, Zeitschriften, Schaufenstern oder dem neuen Medium Radio entwickelt sich die Litfaßsäule zum Kommunikationsmittel für die Vermittlung von Träumen und Sehnsüchten. Markenartikel, die sich von anderen abgrenzen und über die Deckung des notwendigen Bedarfs hinausgehen, sind damit allgegenwärtig. Allerdings bleibt der Großteil der beworbenen Artikel für breite Bevölkerungsschichten unerschwinglich – das Einkommen reicht gerade oder oft nicht einmal zur Deckung der Grundbedürfnisse.
Autoren: Stefan Karner und Lorenz Mikoletzky, 2008 (wissenschaftliche Ausstellungsleitung)
Der Rest ist Österreich. Geschichte der Republik - Dokumentation zur Ausstellung im Nordico. Museum der Stadt Linz vom 3. Februar-18. April 2010