Amtsschimmel

Jeder glaubt ihm schon einmal begegnet zu sein, dem Amtsschimmel, auch wenn dieser nicht, wie das Wort vermuten ließe, tatsächlich ein Pferd ist, sondern sich vom lateinischen „Simile“, dem Muster oder Formular, herleitet. Der „Amtsschimmel“ hat also nichts mit verschimmelten Akten, weißen Pferden oder berittenen Boten gemeinsam. Mit Hilfe dieser Standard-Vordrucke ließen sich ähnlich lautende Anliegen schematisch und zügig erledigen. Der Schimmelbrief machte den Amtsschimmel: „Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare …“ Das hatten schon die Beamten der alten Habsburgermonarchie herausgefunden. Der niederösterreichische Statthalter Erich Graf Kielmannsegg fragte im Jahre 1906 in einer von ihm verfassten Abhandlung über „Geschäftsvereinfachung und Kanzleireform bei öffentlichen Ämtern und Behörden“: „Existiert dieser so oft zitierte Amtsschimmel in Wirklichkeit? Ich sage ja, er wird trotz alles Gespöttes fleißiger geritten denn je. Das Simile, der »Schimmel«, wird fort und fort abgeschrieben, unbekümmert um die Änderung der Zeiten; es wird geschrieben und »manipuliert« wie ehedem, ohne auch nur darüber nachzudenken, ob und wie eine Vereinfachung des administrativen Verfahrens möglich sei.“ Wie zeitlos recht Kielmannsegg doch gehabt hat!

Bürokratie ist keine österreichische Spezialität. Es gibt sie überall. Charles Dickens, der genaue Beobachter des viktorianischen Englands, hat das „Komplikationsamt“ beschrieben, das zum Selbstzweck, zu einer automatisch arbeitenden Maschinerie geworden ist und im Dienste der Macht selbst zur Macht wird. Sankt Bureaukratius lässt grüßen. Aber es gibt berechtigte Hinweise, dass der Einfluss des Staates und seiner Diener in Österreich größer ist als anderswo. Die Beamten waren die Träger der österreichischen Identität. In der Habsburgermonarchie wurden sie zu Meistern des bürokratischen Taktierens und des Findens von Kompromissen geformt. Dem „Beschwichtigungshofrat“ ist jede Lösung eines Problems zuwider: „Tue nichts und verhindere alles“. Der Amtsschimmel ist nicht verschwunden. Aber er hat einen noch viel mächtigeren Verwandten erhalten: den „Blechtrottel“. Wer jemals verzweifelt das Formular eines elektronischen Fragebogens auszufüllen versucht hat, weiß, was gemeint ist. Da sind selbst manche Beamte machtlos. „Als Beamter“, lässt daher schon Arthur Schnitzler den Hofrat Winkler in seinem Stück „Professor Bernhardi„ mit weiser Voraussicht sagen, „da hat man nur die Wahl, Anarchist oder Trottel.“

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 11. November 2006, 34.