Das Wiener Schnitzel ist das österreichische Nationalgericht schlechthin: Weltberühmt und immer wieder gern gegessen. Als solches ist es von vielen Legenden und Geschichten umrankt. Durch alle österreichischen Kochbücher und kulturhistorischen Smalltalks geistert die Geschichte, dass das Schnitzel im Jahre 1849 durch Radetzky von Mailand nach Wien transferiert worden sei. Das ist ganz und gar unmöglich. Denn schon im ausgehenden 18. Jahrhundert finden sich Schnitzelrezepte in den Wiener Kochbüchern. Ein italienischer Reiseschriftsteller, Felice Cùnsolo, hat die Geschichte mit Radetzky und Kaiser Franz Joseph in seinem Standardwerk „Italien tafelt“ 1969 erstmals erwähnt. Er berichtet von einem Flügeladjutanten von Kaiser Franz Joseph namens Attems, der ein diesbezügliches Schriftstück verfasst habe, und einem im Wiener Staatsarchiv verwahrten Bericht des Feldmarschalls Radetzky, in welchem er die Regierung davon unterrichtet habe, dass die Mailänder Küche etwas wahrhaft Außergewöhnliches hervorbringe, ein Kalbskotelett, in Ei gewälzt, paniert und in Butter gebacken. Der junge Franz Joseph sei an dem Rezept viel mehr interessiert gewesen als an der militärischen Lage in den aufständischen Provinzen und habe sich das Gericht gleich nachkochen lassen.
Das Ganze ist von vorn bis hinten erfunden, wie genau recherchierende Archivkenner nachgewiesen haben. Es gab weder einen Flügeladjutanten namens Attems, noch gibt es ein derartiges Schriftstück. Interessant ist nur, wie bereitwillig alle nach 1969 schreibenden österreichischen Kochbuchautoren und Gourmetjournalisten die Geschichte aufgegriffen haben. Sie passte erstens zur Mythenbildung um Radetzky und Franz Joseph, zweitens zum Image der italienischen Küche, das in den 1960er Jahren zu boomen begann, und drittens vielleicht auch zum Bestreben, dem Multikulturalismus der Habsburger Monarchie damit eine weitere Facette hinzuzufügen. In Wahrheit ist das Wiener Schnitzel ein typisches Gericht des sich im späten 18. Jahrhundert formierenden Bürgertums: In Wien wurde damals sehr viel Kalbfleisch gegessen. Von den wenigen Schweinen, die aber auf 180 bis 200 kg gefüttert wurden, fiel entsprechend viel Schmalz an. Da man in den Städten vornehmlich Weißbrot aß, konnte man die Reste als Semmelbrösel verwerten. Vor allem aber unterstützte das Schnitzel die bürgerliche Verdrängung des Tieres von der Tafel. Die Tiere wurden nicht mehr wie in der feudalen Gesellschaft als Ganzes auf die Tafel getragen und vor den Augen der Esser tranchiert. Das Schnitzel wurde in der Küche portioniert und den Fleischcharakter des neuen Gerichtes konnte man wegen der goldgelben Panier von außen gar nicht mehr erkennen.
Roman Sandgruber
Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 27. Jänner 2007