Als der englische Kolonialoffizier Robert Baden-Powell vor nunmehr genau 100 Jahren vom 31. Juli bis zum 9. August 1907 das erste Zeltlager auf Brownsea Island veranstaltete und damit die weltweite Pfadfinderbewegung begründete, konnte er nicht ahnen, welche touristische und erlebnisorientierte Dimensionen seine Ideen im 20. Jahrhundert gewinnen sollten und in welche Luxuszelte und Wohnwagensondermodelle sich die einfachen Firstzelte und Massenlager der Frühzeit inzwischen verwandelt haben.
Das Zelt, einst die bewegliche Unterkunft der Hirten und Jäger, der Beduinen in den Wüsten Nordafrikas und Vorderasiens, der Reiter- völker der mittelasiatischen Steppen, der Indianer Nordamerikas, der Nomaden in den Tundren des hohen Nordens oder im tibe- tanischen Hochland, ist zum Symbol der modernen Urlaubernomaden geworden. Für die sesshaft gewordene Menschheit bedeutete das Zelt seit jeher einen Hauch von luxuriöser Freiheit, trotz aller Beschwerlichkeit eines Zeltlagers. Stellte es für die nomadischen Völker eine Notwendigkeit dar, so gewann es für die sesshaften Bewohner vor allem im höfischen und im damit eng verbundenen militärischen Bereich Bedeutung. Die Prunkzelte der antiken Assyrer- und Perserkönige ebenso wie jene der arabischen, tatarischen und türkischen Herrscher waren weitum berühmt. Dschingis-Khan regierte das größte Reich, das in der Weltgeschichte jemals bestand, von einem Zelt aus. Sein Enkel Kublai Khan, der in Peking residierte, ließ sich seine Paläste in Form von Zelten bauen. Vom Luxus der Zeltstadt der Türken vor Wien zeugen die Beutestücke in den Museen in Wien und Krakau. Am orientalischen Vorbild, das man in den Kreuzzügen kennengelernt hatte, orientierten sich auch die Prunkzelte mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Fürsten, mit denen sie ins Feld und zu den Turnieren fuhren, auf die Jagd gingen oder einfach repräsentierten.
Der moderne Mensch ist sesshaft geworden. Vielleicht ist gerade diese Sesshaftigkeit der Grund, dass der Mensch sich so sehr nach der Mobilität zurücksehnt, nach der Romantik des Vagierens und Trampens, des Zeltens und Campierens. Der Besitzbürger hat Scheu vor der Unstetigkeit des fahrenden Volkes und träumt gleichzeitig von der Romantik des Zigeunerlebens, von der Freiheit unter dem Zirkuszelt, von der Liebe zum Tingel-Tangel und von der Ungebundenheit und Naturnähe eines Campingurlaubs. So ist im Zelt beides enthalten, der Weg zur Einfachheit und Naturnähe und der Hauch der großen Welt und des demonstrativen Luxus.
Roman Sandgruber
Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 4. August 2007, 30.