Kaugummi

Er ist zum Inbegriff amerikanischer Unkultur der Besatzungs- zeit geworden: der amerikanische Soldat, den Kaugummi, lässig im Mundwinkel, die Beine hoch oben auf der Tischplatte, die Hände im Hosensack. Beatrix Eypeltauer, die Tochter des Linzer Nachkriegsbürgermeisters Ernst Koref, erzählt über die ersten Tage nach Kriegsende. Koref war am 7. Mai, zwei Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner in Linz, zum Bürgermeister bestellt worden. Sein erster Eindruck von den Amerikanern: „Sie saßen da mit Kaugummi und Zigarette im Mund, die Füße auf seinem Schreibtisch.“

Lässigkeit oder Unkultur? Das Kauen ist eine uralte Sitte oder Unsitte. Was haben die Österreicher in ihrer langen Geschichte nicht schon alles gekaut: vom bitteren Geschmack des im Mittelalter weit verbreiteten Pechkauens über das ziemlich gefährliche, aber rote Wangen verheißende Arsenkauen bis zum recht ungustiösen Tabakkauen, ganz abgesehen vom Kauen an Bleistiftenden oder Fingernägeln.
Der Kaugummi bot eine neue Qualität: verglichen zu Pech, Arsen oder Kautabak ist er vergleichsweise harmlos, außer dass damit zum Ärger vieler Lehrkräfte so herrliche Ballons geblasen und Schnalzer erzeugt und mit an den unmöglichsten Stellen verstauten Resten Mütter zur Verzweiflung gebracht werden können.

Wer den Kaugummi wirklich erfunden hat ist schwer zu sagen. Ob der Seemann John Curtis, der 1848 nach einem nordamerikanisch-indianischem Rezept Fichtenharz mit Bienenwachs vermengte, der New Yorker Fotograf Thomas Adams, der 1870 den „Black Jack“, einen Kaugummi mit Lakrizgeschmack, zum Erfolgsschlager machte, oder der Vertreter William Wrigley, der seit 1892 „wrigley´s spearmint“ und „Juicy Fruit“ zu Verkaufsrennern werden ließ.

Im Marschgepäck der amerikanischen Soldaten war neben Coca Cola auch der „chewing gum“. Der „Kiddy“ wurde seit 1946 auch in Österreich produziert, in Salzburg, im Zentrum der amerikanischen Besatzungsmacht: Slogans wie „Kiddy kauen gut verdauen“ sollten auch skeptischen Kulturkritikern die Akzeptanz erleichtern. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg brachte Topps den Bazooka auf den Markt. Und der Wiener Automatenaufsteller Ferry Ebert begann neben dem Verkauf von Kondomen auch den Vertrieb von Kaugummis über Automaten.

Ein Durchschnittsamerikaner kaut heutzutage rund 200 Kaugummis im Jahr. Aber die Europäer liegen nicht so weit zurück. Franzosen und Belgier kommen auf ähnliche Werte. Die Deutschen und Österreicher kauen etwa 100 Stück jährlich. Etwa 50 Millionen Euro werden dafür im Jahr ausgegeben.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 15. Oktober 2005.