Kirchensitz

In der Weihnachtszeit haben auch die Kirchen wieder etwas mehr Zulauf: Weg vom Trubel der Straße in die Besinnlichkeit des Kirchenraums, wo es heutzutage auch wohlig warm ist und man vor allem auch sitzen kann. Dabei gibt es ihn noch gar nicht so lang, den Kirchensitz. Bis in das späte Mittelalter hatte das Volk in den Kirchen zu stehen. In den südlichen Ländern und in den Ostkirchen ist dies noch immer recht häufig.

Sitzen galt einst als göttliche und herrschaftliche Haltung, nicht als menschliche und untertänige. Sitzen ist vor allem keine Gebetshaltung. Das gläubige Volk, das bittend vor den Herrn trat, hatte beim Gottesdienst zu stehen und zu knien. In der Kathedrale stand die Kathedra, der Thron des Bischofs. Die Bestuhlung der Gotteshäuser ging schrittweise vor sich.
Im 11. Jahrhundert begann man als Erstes, die vom Kirchen- schiff durch den Lettner getrennten Chorräume mit Sitzbänken auszustatten, um den Mönchen und Chorherren beim ermü- denden Chorgebet einen Wechsel zwischen Stehen, Sitzen und Knien zu erlauben. Seit dem 14. Jahrhundert richteten sich die Spitzen der Bürgerschaft in den Städten und die herrschenden Adeligen auf dem Land einzelne Sitzbänke in den Kirchen ein und erhoben sich dadurch über die allgemeine Kirchengemeinde. Das Kirchenschiff allerdings blieb noch lange bänkelos.

Es war der Protestantismus, der mit seiner Betonung von Predigt und Gesang das Sitzen der gesamten Gemeinde zum Programm machte. Das wurde auch in den katholischen Kirchen übernommen. Jedes Kirchenmitglied sollte einen Kirchensitz haben. Der nummerierte Kirchensitz war zu einem Prestige- gegenstand geworden, vergleichbar mit dem heutigen Gerangel um Autonummern. „Nicht einmal einen Kirchensitz hat sie, die Lechnerin“, charakterisierte Franz Innerhofer in einem seiner Romane treffend das bäuerliche Prestigedenken. Des Bürgers und Bauern ganzer Stolz war sein gesperrter Kirchensitz mit dem Messing- oder Emailplättchen, auf dem sein Name stand.

Die Kirchensitze waren nach Rang differenziert, sie wurden auch nach Geschlecht getrennt: in eine „Weiber“- und eine Männerseite. Das nördliche oder linke Kirchenschiff war die Frauenseite, das rechte oder südliche die Männerseite. Manche mögen vorschnell vermuten, dass diese „linke“ oder „nördliche“ Seite die schlechtere sei. Aber die nördliche Seite ist heraldisch, also vom Altar aus gesehen, die rechte Seite und konsequent auch die „Evangelienseite“, also die bessere Seite. Einmal also ein Fall, wo die Frauen in der Kirche nicht diskriminiert, sondern symbolisch bevorzugt waren.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 15. Dezember 2007, 42.