Orangen

Orangen erwecken Kindheitserinnerungen: damals, in der kargen Nachkriegszeit waren sie eine der großen Sehnsüchte: der feine Duft, der süße Geschmack, das raschelnde, bunt bedruckte Seidenpapier, in das die Früchte verpackt waren und das wir als Kinder glatt gestrichen und sorgfältig bewahrt und gesammelt haben. Inzwischen wird es nicht mehr gebraucht, weil die Früchte chemisch behandelt und in speziellen Kühlcontainern quer über die Kontinente verlagert und vertrieben werden.
Die Orangen gehören zu den ältesten Kulturpflanzen der Welt. In China wurden sie schon vor 4000 Jahren kultiviert. Ihr Name, lateinisch Citrus sinensis, deutsch auch Apfelsine, weist schon auf die chinesische Herkunft. Heute sind sie die am häufigsten angebauten Zitrusfrüchte der Welt und neben den Bananen und dem Wein die wichtigsten Obstkulturen. Im 15. oder 16. Jahrhundert waren sie über Portugal nach Europa gekommen, haben den ganzen Mittelmeerraum erobert und sind im späten 19. Jahrhundert auch in Kalifornien und Florida eingebürgert worden. Heute ist Brasilien der wichtigste Produzent. Was einst exotisch war und nur zu Weihnachten in die Regale kam, ist inzwischen alltäglich und wird fast als heimische Frucht verstanden, während sich die Supermärkte mit Litschis, Mangos, Avocados und noch viel mehr übertrumpfen.

Was heute mehr bewegt als die Frucht ist die Farbe: Orange steht in keinem hohen Ansehen. Schon Johann Wolfgang von Goethe, der von dem Lande träumte, wo die Goldorangen glühen, hatte von der zugehörigen Farbe keine hohe Meinung. Über das „hohe Gelbrot“ schrieb er, es sei „kein Wunder, dass energische, gesunde, rohe Menschen sich besonders an dieser Farbe erfreuen. Man hat die Neigung zu derselben bei wilden Völkern durchaus bemerkt ...“

Von den Farbpsychologen wird über Orange generell wenig Gutes geschrieben. Es symbolisiere das Süße, das Aromatische, das Billige, die Aufdringlichkeit, das Extrovertierte, das Modische, das Laute, die Aufregung: Die Müllmänner und Straßenkehrer, Pannenhelfer und Schneeschaufler, und neuerdings auch die Autofahrer, sind damit ausgestattet. Orange sind nicht nur die nordirischen Protestanten, die holländischen Fußballfans und die ukrainischen Reformpolitiker, sondern neuerdings auch die Proponenten einer österreichischen Partei.
Orange regt rasch auf und stumpft rasch ab. Das sollte man sich auch bei der Beurteilung mancher Politiker merken: Die Wirkung von Orange ist kurzfristig. Die Beständigkeit ist nicht seine Sache.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 27. August 2005, 33.