Brillen

Narren, Dummköpfe und Esel werden in Karikatur und Fabel gerne mit Brillen dargestellt. So blickt von einem spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Freskorest in der Wiener Innenstadt ein bebrillter Ochse auf die Straße herab. Wie kommt es, dass gerade die Dummheit mit einem Attribut charakterisiert wird, das als eine der folgenreichsten und revolutionärsten Erfindungen der Menschheit gilt? Rechnet man die Brillen doch zu jenen drei entscheidenden Errungenschaften des europäischen Mittelalters, die den wissenschaftlichen Aufschwung des Kontinents grundgelegt haben: die Räderuhr, die Druckerpresse und eben die Brillen, die es vielen Gelehrten erst möglich gemacht haben, die neue Flut des Wissens bis in ein höheres Alter hinein zu verarbeiten.

Die Geschichte der Brille begann um 1200 in Italien mit geschliffenen Halbedelsteinen, den Beryllen, die direkt auf das Geschriebene gelegt wurden. Als die Lesesteine und Eingläser in zwei runde Holzrähmchen gesetzt wurden, die durch Nieten verbunden und direkt vor die Nase gehalten werden konnten, war knapp vor 1300 die Brille erfunden. Die älteste bekannte bildliche Darstellung einer Brille im deutschen Sprachraum findet sich auf dem um 1370 entstandenen Altar von Schloss Tirol.
Im Mittelalter galten Brillen vorerst als Symbol von Gelehrsamkeit und Würde. Michael Pacher hat auf dem St. Wolfganger Altar zwei Personen mit Brillen versehen, einen lesenden Apostel und den Evangelisten Lukas. Einen Hohen Priester mit Brille sieht man auch auf dem spätgotischen Flügelalter von Gampern. Nur wer des Lesens kundig war, bedurfte der Lesehilfe, und nur der war ein hochgestellter Herr. So förderte ihr Besitz nicht nur das Sehen, sondern auch das Ansehen. Brillen auch bei voller Sehkraft zu tragen und damit den Status eines Gebildeten vorzutäuschen, war daher ein nicht unlogischer Schritt. Abbildungen des 16. bis 18. Jahrhunderts zeigen Scheinheilige und Betrüger, Narren und Quacksalber, Dämonen und Teufel mit Brillen. Auch Tiere, lesende Esel und Eier bemalende Osterhasen, wurden als Zeichen ihrer Dummheit nicht selten mit Brillen dargestellt.
So wandelte sich die Brille vom Zeichen für Ansehen und Gelehrsamkeit zum Symbol der Arglist und Narretei und zum Requisit des blinden, betrogenen Liebhabers, des langweiligen Stubenhockers und der naiven, etwas ältlichen Jungfrau. Erst die Reise- und Eisenbahnbrillen, Gletscher- und Autobrillen, Flieger- und Taucherbrillen übertrugen das Prestige der damit verbundenen Tätigkeiten und Freizeiterlebnisse erneut auf die Brille: Sonnenbrillen als neues Statussymbol wurden gleichbedeutend mit Luxus, Urlaub und Glamour.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 9. Juli 2005, 32.