Schirme

Langsam beginnt wieder die Schirmzeit, auch wenn es gerade angesichts des heurigen Sommers etwas übertrieben wäre zu behaupten, man hätte den Regenschirm nicht gebraucht. Und wer benutzt im modernen Bräunetick überhaupt noch einen Sonnenschirm? Dabei ist der Regenschirm nur der arme Verwandte des prestigereichen Sonnenschirms.

Von seinem frühesten Auftauchen an war der Sonnenschirm mit Würde und Rang verbunden: Chinesische Kaiser, assyrische Könige und ägyptische Pharaonen führten ihn als Auszeichnung. Baldachine, vom italienischen Namen für Bagdad, nannte man daher im Abendland die kostbaren, über Throne, Altäre und Betten gespannten Schirme und Himmel, die die Päpste von den Kaisern als Kennzeichen von Macht und Heiligkeit übernahmen. Schirme, die vor der sengenden Sonne schützten, waren das Attribut derer, die der Sonne am nächsten standen. Es ist daher die Theorie nicht von der Hand zu weisen, dass der goldene Heiligenschein, der die Heiligen des Abendlands hervorhebt, ursprünglich nichts anderes war als die später nicht mehr verstandene oder missverstandene Andeutung eines Schirms.

Von seiner Herkunft her hat der Sonnenschirm auf jeden Fall den Vorrang vor dem Regenschirm. Der bekannteste Mann, der als erster einen Regenschirm benutzte, war ein fiktiver: Robinson Crusoe, den Daniel Defoe in seinem im Jahre 1719 publizierten gleichnamigen Roman beschrieb. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ging kein Engländer mehr ohne Regenschirm aus. Um 1830 war auch in Mitteleuropa der Schirm so allgemein geworden, dass man ohne Schirm auffiel. Aber noch um 1860 wurden in den Wiener Schirmfabriken zwei Drittel Sonnenschirme und nur ein Drittel Regenschirme hergestellt.

Die Diderot'sche Enzyklopädie unterschied nach Parasol und Parapluie oder „ombrelle“ und „parapluie“. Im Englischen ist die Situation insofern verwirrend, als der an sich schattenspendende „umbrella“ zum Regenschirm geworden ist. Dass das Deutsche mit Schirm sowohl Regen wie Sonne meint, mag auf die späte Übernahme zurückzuführen sein. Nur der "Amparäl", der aus dem Dialekt fast ganz verschwunden ist, erinnert noch an den schattenspendenden Sonnenschirm, auch wenn damit ein Regenschirm gemeint ist. Und unter "Parasol" versteht man inzwischen eher den essbaren Schirmpilz als den eigentlichen Sonnenschirm.

Der Schirm ist inzwischen zum eher unbeachteten Gegenstand der Zerstreutheit geworden, praktisch und handlich. Er wurde immer leichter und kleiner, zusammenklappbar und zusammenschiebbar. Aus dem Amparäl ist der Knirps geworden, aus dem Symbol für Rang und Macht ist ein kleines, wenig beachtetes, aber nützliches Ding der Massengesellschaft.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 5. November 2005