Ist es nur ein inhaltsleeres Medienspektakel oder eine Aktion mit tieferem symbolischem Hintersinn, wenn sich ein gar nicht mehr so junger Neominister das Haar abschneiden und den Bart wegrasieren lässt? Alles natürlich beim Nobelfriseur. Es hat jedenfalls Zeiten gegeben, wo man einem derartigen Haarverlust mächtige Wirkungen zuge- sprochen hätte.
Wer kennt nicht die Geschichte von Samson und Delila? Das lange Haar gab Samson, dem gefürchtetsten Krieger im Kampf gegen die Philister, die Riesenkräfte. Die weiblich- verschlagene Delila entlockte ihm sein Geheimnis und schnitt ihm den Zopf ab, so dass ihn die Philister ohne nennenswerte Gegenwehr überwältigen konnten. Als ihm aber das Haar wieder nachgewachsen war, erwachten seine Riesenkräfte neu: er brachte die mächtige Versammlungshalle der Philister zum Einsturz und riss 3000 von ihnen mit sich in den Tod. Wir finden wilde, männerbündische Krieger, die ihre Haare nie schneiden lassen durften, in der biblischen Geschichte ebenso wie in den germanischen Heldensagen. Die Berserker, zottelig wie Bären, zogen wild und Furcht erregend in die Schlacht. Das lange, niemals geschnittene Haar verlieh den merowingischen Königen die königliche Legitimation. Die Haare zu schneiden war für sie gleichbedeutend mit dem Verlust der Königswürde und ärger als der Tod: Scheren war für den letzten Merowingerkönig Childerich III. gleichbedeutend mit Entmannen.
Der Freie trug sein Haar lang. Die Köpfe der Bauern und Sklaven wurden kahl geschoren. Der Geschorene war der Unfreie, der Untertan, der Bauer, im Wiener Sprachgebrauch der „Gscherte“. Lange Haare sind revolutionär. Struwwelpeter war so ein Revolutionär: ein radikaler Politiker des Vormärz namens Gustav Struve. Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann stempelte ihn zum Außenseiter. „Kämmen ließ er nicht sein Haar…“ Hoffmanns so überaus populär gewordenes Kinderbuch war politische Verunglimpfung in höchsten Graden: „Pfui, da steht er ...“ Auch Heinrich Heine beschrieb so einen revolutionären Liberalen, einen Greifswalder Studenten: „Dieser war ein Mann aus jenen Zeiten, wo die Läuse guten Tag hatten und die Friseure zu verhungern fürchteten.“ Nach der Niederschlagung der Revolution und dem Sieg des Neoabsolutismus mussten in Österreich die langen Haare und Bärte weg. So würde man das Abschneiden der Haare wohl auch als Zähmung eines unkonventionellen Bundesländerpolitikers im Wiener Regierungsestablishment sehen können. Die Haare wachsen zwar wieder nach. Aber ob sich ihre symbolische Wirkung auch so leicht wieder herstellen lässt wie beim biblischen Samson?
Roman Sandgruber
Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 10. März 2007, 38.