Stroh

An die großen zylindrischen Strohballen auf den Feldern statt der Kornmandel und Strohhaufen hat man sich längst gewöhnt. Mit dem Getreidebau und dem Beginn der Landwirtschaft vor mehr als 10000 Jahren begann auch die Geschichte des Strohs. Leeres Stroh ist ein Abfallprodukt. Dass es aber für den Menschen früher einmal etwas sehr Wichtiges darstellte, belegt schon die Geschichte des Wortes. Diese führt auf eine den indoeuropäischen Sprachen gemeinsame Wurzel „ster“ oder „stru“ zurück, die uns in den aus dem Lateinischen hergeleiteten Fremdworten „kon-stru-ieren“ und „Struk-tur“ in ihrer ursprünglichen Bedeutung von aufbauen und aufstreuen noch recht geläufig ist. Stroh war einmal ein wichtiger Bau- und Werkstoff: für Dächer und Wände, für Körbe und Hüte, für Bettstreu und Unterstreu, als Viehfutter und Dünger, bis hin zum Totenbett und Trauergerüst: Das für den Hunnenkönig Attila aufgerichtete Totengerüst wurde damals mit einem offensichtlich gotischen Wort als „strava“ bezeichnet. „Auf dem Stroh liegen“ war noch im 19. Jahrhundert eine geläufige Umschreibung für die Todesstunde: „Wenn einer auf dem letzten Stroh liegt, ist man zu nichts mehr aufgelegt“, liest man bei Peter Rosegger.

Ein ausgesteckter Strohwisch oder Strohkranz war einst ein wichtiges Zeichen für den Beginn der Ernte oder als Ankündigung für einen Markt. Noch heute weist er uns zu Wein- und Mostheurigen. Andererseits wurde ein Strohkranz auch als Zeichen der Schande und Entehrung verstanden, besonders für Mädchen, die ihre Jungfernschaft vor der Ehe verloren hatten. „Doch als neun Monde gingen / stets müder durch den Sand, / den Strohkranz sie ihr hingen / ans Haus ob ihrer Schand“, reimte Clemens Brentano.

Am häufigsten verbindet sich mit Stroh die Vorstellung der Armut oder auch der Dummheit: Geboren „auf Heu und auf Stroh“ ist uns aus der Weihnachtsgeschichte geläufig. „Gott verzeih's meinem lieben Mann, / er hat an mir nicht wohl gethan! / Geht da stracks in die Welt hinein / und lässt mich auf dem Stroh allein“, schimpft die tratschsüchtige Nachbarin Martha in Goethes Faust. Und das Wort Strohkopf für einen Menschen, dessen „Kopf gleichsam statt eines Gehirnes Stroh enthält“, wurde von dem wortgewaltigen Wiener Hofprediger Abraham a Sancta Clara geprägt. Aber „nicht jeder habe Stroh im Kopf, der unter einem Strohdach geboren“ sei, fügte er hinzu. Vom „strohdumm“ ist es nicht weit zu „strohblond“. Die Blondinenwitze sind ganz offensichtlich aus solchen Assoziationen entstanden. Erst das biologische Bewusstsein hat dazu beigetragen, in Stroh wieder etwas Werthaltiges zu sehen und hat dazu beigetragen, die Unsitte, es auf den Feldern abzubrennen, wieder zurückzudrängen.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 20. Oktober 2007, 40.