Arsen

Arsen ist ein schweres Gift. Es gilt als jenes Gift, dem die meisten Giftmorde der europäischen Politikgeschichte zuzurechnen gewesen sein sollen. Manche bezeichneten es auch als Erbschaftspulver der Bürger und Ahnenvertilgungsmittel der alpenländischen Bauern. Denn immer wieder richteten sich solche Giftmorde gegen alte Auszügler und Einleger und sonstige Personen, die nur mehr zur Last fielen.

Bis ins 19. Jahrhundert war Österreich der weltweit bedeutendste Arsenerzeuger. Es gab zahlreiche Arsenbergwerke und Arsenhütten, von denen die für viele damalige Produktionsprozesse wichtige Chemikalie weltweit vertrieben wurde. Aber nicht nur als Gift und als Produktionsmittel war Arsen oder „Hittrach“ geschätzt. Es wurde auch als Droge benutzt: „Ein Weizenkorngroß macht rot, ein Erbsengroß macht tot“, wusste man das Risiko dieses Arsenkauens durchaus abzuschätzen. Kleine, in kurzen Abständen eingenommene Dosen dieses sehr starken und ätzenden metallischen Giftes konnten eine kurzfristig kräftigende Wirkung ausüben und blühendes Aussehen verleihen oder vortäuschen. Der Grat zur tödlichen Wirkung war schmal. Mengen, die für den Anfänger absolut tödlich waren, konnte ein langjähriger und an die Droge gewöhnter Arsenkauer aber durchaus gut verkraften. Meist wurde das Arsen in kleinen Körnchen auf Brot oder Speck gelegt. Ein gewohnheitsmäßiger Arsenesser war jedoch imstande, auch ein erbsengroßes Stück im Mund so langsam zergehen zu lassen, dass es ihm nicht schadete.

Das Arsenkauen war in den Ostalpen bis ins 19. Jahrhundert weit verbreitet: Viele Bergleute, Hütten- und Hammerarbeiter, Holzknechte, Jäger, Fuhrleute, Bauern, Rossknechte oder Bergführer zählten zu den Konsumenten. Schwerarbeiter konnten mit Arsen kurzfristig zu besonderen Leistungen angespornt werden. Die meisten Arsenesser gab es in der Landwirtschaft. Es soll vorgekommen sein, dass die Bäuerin den Dienstboten heimlich Arsen ins Essen mischte, um ihre Leistungskraft zu steigern. Unter den Hüttenarbeitern in Donawitz war es nach dem Ersten Weltkrieg noch weit verbreitet. Auch zahlreiche Schauspieler, Artisten und Prostituierte sollen sich unter den Arsenkauern befunden haben.

Den Höhepunkt dürfte das Arsenkauen aber im 17. Jahrhundert gehabt haben. Seit dem 18. Jahrhundert war die Gewohnheit rückläufig. Branntwein und Tabak traten an seine Stelle. Seit dem späten 19. Jahrhundert kamen weitere Drogen hinzu, die das so gefährliche Arsenkauen verdrängten, aber selbst zu einer noch größeren Bedrohung wurden.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 24. Juni 2006, 38.