Kinderwagen

Die mobile Gesellschaft ist auch an den Kindern nicht vorbei gegangen. Das rollende Zeitalter brachte auch das rollende Kind. „Baby an Bord. Mit dem Kinderwagen durch das 20. Jahrhundert“, heißt eine Ausstellung, die im Wien-Museum, dem früheren Historischen Museum der Stadt Wien, vom 18. 10. 2007 bis 31. 1. 2008 gezeigt und erzählt wird.

Mit dem Kinderwagen durch das 20. Jahr- hundert trifft den Punkt: Denn recht viel älter ist dieses Gefährt nicht. In unseren Heimatmuseen und Heimatfilmen findet man nur Wiegen. Kinder wurden in Wickeltüchern getragen oder manchmal in kleinen Leiter- wägelchen hinterher gezogen. Kinderwägen wurden erst sinnvoll, als die Straßen so glatt waren, dass ein Schieben überhaupt möglich war. Auf der Wiener Weltausstellung 1873 konnten die Österreicher erstmals damit Bekanntschaft machen. Im „Pavillon des kleinen Kindes“ zeigte man auch Kinderwägen aus England und Deutschland. Man nannte sie noch nicht Kinderwägen, sondern versah sie mit der recht geschwollen klingenden Bezeichnung „Perambulator“. Erst allmählich bürgerte sich das heute so selbstverständliche „Kinderwagen“ ein. Die Bürokratie machte sich Sorgen über die Verkehrssicherheit: Anfangs waren in Deutschland für Kinderwägen Nummernschilder Pflicht. In England durften die Gehsteige nicht mit Kinderwägen befahren werden. In den Wiener städtischen Parks waren Kinderwägen vorerst verboten.

Mit dem Kinderwagen geht es durch das 20. Jahrhundert, beginnend mit der berühmten Szene aus Sergej Eisensteins Film „Panzerkreuzer Potemkin“ vom Matrosenaufstand 1905 in Odessa, in der ein „herren- loser“ Kinderwagen die Treppe hinunterschlittert, nachdem die Soldaten das Feuer auf die Frauen eröffnet hatten. In den Wiener Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit waren erstmals Kinderwagenabstellplätze vorgesehen. 1944 gab es den deutschen Einheitskinderwagen. Beklemmend sind die Fotos mit den zurückgebliebenen Kinderwägen in Auschwitz. In der Not der ersten Nachkriegszeit wurde der Kinderwagen zum Hilfsmittel, mit dem Ausgebombte und Flüchtlinge ihre spärliche Habe transportierten.

Der Kinderwagen war schon immer ein Designprodukt: von den riesigen Babykutschen über die flotten, stromlinienförmigen Sportwagerl bis zu den heutigen Renommierprodukten Bugaboo oder Peg Perego. Doch wer schiebt? In den Anfängen wie selbstverständlich das Kindermädchen. Dann hieß es: den Männern die Motorkutsche, den Frauen die Babykutsche. Die Emanzipation hat auch aus den Männern Kinderwagenschieber gemacht, auch wenn die Kinder immer weniger werden.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 10. November 2007, 34.