Jemandem eine Semmel zu schenken, war einst eine noble Gabe. Ein Bäckerwecken oder eine Semmel waren im frühen 20. Jahr- hundert für viele Bauernkinder noch ein Festtagsschmaus. Weißbrot und Süßigkeiten waren unerreichbare Wünsche: Eine Semmel war ein Hochgenuss: „A Semmel - mein - wenn i a Semmel g'sehen hab! Hätt’s irwent mögen, hab’s ned kriegt. Ja, die Mutter hat's ah ned ghabt“, liest man in den Erinnerungen eines inzwischen alt gewordenen Bauernkinds. Brot, und da vor allem weißes Brot, galt als Nahrung der wirtschaftlich Besserge- stellten. In der mittelalterlichen Bauernkost überwogen Speisen aus geschroteten oder schlecht vermahlenen Gersten-, Hafer- und Hirsekörnern, die entweder bloß in Wasser gesotten oder in Milch breiartig gekocht wurden. Brot bedeutete Ansehen: Oben auf der sozialen Leiter dominierte der Weizen, für die Armen war selbst der Roggen zu teuer. In den Träumen vom Schlaraffenland wuchsen die Semmeln auf den Bäumen.
Der Name der Semmel kommt vom lateinischen „simila“, dem Weizenmehl. Man übertrug den Namen vom Mehl auf das Gebäck. Semmeln, das heißt „weißes Brot“, gab es zu erst in den Klöstern. Die Grenze vom Weißbrot zum Schwarzbrot war eine zwischen Stadt und Land, zwischen reicheren und ärmeren Regionen, zwischen Süd und Nord, zwischen Fortschritt und Beharren. Während man im früher viel reicheren Südeuropa Weißbrot isst, hatte man im ärmeren Norden nur Schwarzbrot. Weißes Brot war Herrenbrot. Es gab eine Geographie und eine Soziographie der Brotsorten: Während die Stadtbewohner frisches, feines, weißes Weizenbrot zu essen bekamen, war das Brot der Landbevölkerung hart, grob und dunkel. Man hatte ein weißes Brot für „bessere Zeiten und Leute“. In der mittelalterlichen, aus dem Innviertel stammenden Erzählung vom „Meier Helmbrecht“ ist das weiße Brot das Zeichen des ersehnten Herrenlebens. Der junge Helmbrecht, dem das Bauernleben zu minder geworden ist und der als Raubritter und letztlich am Galgen endet, isst das weiße Herrenbrot, während sein Vater sich mit dem dunklen Haferbrot begnügt. „Ich will auch bis an meinen Tod, von weißen Semmeln essen Brot“, fordert der junge Helmbrecht.
Wir sagen zwar immer noch, dass etwas „wie warme Semmeln weggehe“. Aber die alte Volksweisheit, wer seine Semmel in der Jugend aufisst, muss im Alter Roggenbrot essen, ist uns recht fremd geworden. Unzählige Semmeln werden achtlos weggeworfen, und die nachhaltige Vorsorge für die Zukunft geht im Tagesgeschäft unter.
Roman Sandgruber
Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 4. November 2006, 34.