Nadeln

Die Nadel ist der Liebling der Wirtschaftshistoriker. Dies deshalb, weil dieses so winzige Ding immer wieder geeignet erschien, die größten und kompliziertesten Zusammenhänge des Wirtschaftslebens einfach zu erklären: Am berühmtesten ist da immer noch das Nadelgleichnis, das Christus wählte, um die Schattenseiten der ausbeuterischen Wirtschaft zu geißeln, auch wenn die besagte Stelle vom Kamel, das leichter durch ein Nadelöhr gehe als ein Reicher durch das Himmelstor, immer etwas dunkel und merkwürdig geklungen hat, weil ein Übersetzungsfehler aus der Ähnlichkeit der griechischen Wörter für Kamel und Schiffstau den Sinn entstellt hat. Dass ein dickes Schiffstau schwer durch das Öhr einer kleinen Nadel zu bringen ist, ist wohl etwas einsichtiger als die Sache mit dem Kamel. Adam Smith, der Ahnherr der modernen Ökonomie, wählte die Nadelerzeugung als Beispiel, um im ersten Kapitel seines 1776 erschienenen „Wohlstands der Nationen“ die Vorteile der Arbeitsteilung und der Massen- produktion zu veranschaulichen. Die „Nadelburg“ in Liechtenwörth bei Wiener Neustadt ist das wohl eindrucksvollste Beispiel einer solchen vorindustriellen Fabrikssiedlung aus dem 18. Jahrhundert in Österreich. 1838 wurde in Birmingham die erste praktisch funktionierende Nadelmaschine aufgestellt. Man konnte nicht genug darüber staunen, wie viele Nadeln sich innerhalb kürzester Zeit fabriksmäßig erzeugen ließen. Karl Marx griff folglich im „Kapital“ wieder zum Exempel der Nadelfabrikation, als er den Kapitalismus und seine Funktionsweise erklären wollte.

Die Nadel ist zum Inbegriff der Handarbeit geworden, einerseits in romantischer Verklärung für eine „gute, alte Zeit“, als alle Frauen beim Nähkörbchen saßen und sich in der sanften Kunst der Nadelarbeit übten, andererseits in der realistischen Sozialreportage als Inbegriff des Elends der Näherinnen: Charles Dickens hat die Nadel immer wieder als Thema gewählt, dieses in seinen Augen schreckliche kleine Folterinstrument für hunderttausende arme Frauen und Mädchen.

In den 1850er Jahren brachte Singer die erste funktionsfähige Nähmaschine auf den amerikanischen Markt. Die Näharbeit ist leichter geworden. Die moderne Bekleidungsindustrie hat das Nähen und die Arbeit mit der Nadel zum Hobby werden lassen. An die Mühen der alten Handarbeit zu erinnern, aber auch die Schönheit alter Handarbeitstechniken zu bewahren, hat sich das Handarbeitsmuseum in Traunkirchen zum Ziel gesetzt, das sich auch heuer wieder mit einer empfehlenswerten Sonderschau präsentiert.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 22. Juli 2006, 33.