Hemd

Bis ins Spätmittelalter war das Hemd für den größten Teil der Bevölkerung das wichtigste und bisweilen sogar das einzige Kleidungsstück, das bei Wohlhabenderen durch einen Rock und bei Kälte vielleicht durch einen Mantel ergänzt wurde. Ein Hemd, so heißt es, bleibt auch den Ärmsten. Sein letztes Hemd hingeben, ist der Gipfel der Aufopferung. Die Redewendungen und Sprichwörter machen es deutlich: „Spiel nicht in der Fremde, sonst verlierst du Rock und Hemde.“ Oder: „Wer allzeit säuft und allzeit schlemmt, behält zuletzt kein ganzes Hemd.“ Bis aufs Hemd: das heißt, man hat alles verloren und verspielt. Der Räuberhauptmann Spiegelberg instruiert in Schillers Räubern seine Kumpanen: „Du plünderst deinem Manne Haus und Hof ab, bis ihm kein Hemd mehr am Leibe hebt“. Aber andererseits: „Auch zehn Straßenräuber können einem Nackten kein Hemd ausziehen.“

Das Hemd ist unser ursprünglichstes Kleidungsstück. Das kommt schon in der Wortgeschichte zum Ausdruck. Der indo- europäischen Wortwurzel „khem“ liegt die Bedeutung von „sich bedecken“ zugrunde. Das davon hergeleitete germanische Urwort „hama“ meinte noch ganz generell die Kleidung. Im althochdeutschen „hamed“ oder „hemede“ tritt das Wort bereits in der heutigen Bedeutung auf, wobei sich allerdings seither Funktion und Aussehen recht weitgehend gewandelt haben. Jahrhunderte lang hatten das Hemd, seine Farbe und sein Kragen, ob blau oder weiß, ob offen oder mit Krawatte, höchsten Symbolwert. Adam Smith, der Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre, nahm in seiner berühmten „Untersuchung über den Wohlstand der Nationen“ aus dem Jahr 1776 den Besitz eines weißen Hemdes als Indikator, dass jemand nicht verarmt sei: „Arm ist, wer sich kein weißes Leinenhemd leisten kann“, schrieb er.

„Weiße Hemden“ heißt eine Ausstellung der Linzer Kunstuniversität mit Studentenarbeiten, die unter Leitung von Marga Persson entstanden sind und zu denen auch ein schöner kleiner Katalog mit Texten von Julia Hasenberger erschienen ist. Das Weiß der Unschuld des Taufhemds trifft auf das ungebleichte Grau des Büßer- und Totenhemdes. Dieses letzte Hemd hat ebenso wie das Taufhemd keine Taschen: man bringt nichts mit und kann nichts mitnehmen. So ist das Hemd zum Symbol des Lebens geworden, vom derben Volksspruch über das Erdenleben als Kinderhemd - recht kurz und besch … - bis zur fein ziselierten Rede des Thomas Bernhard, der in einem Interview im Jahre 1981 seine Sicht des Himmels aus der Perspektive eines Hemdes erläuterte, was bleibe und auf was man sich freuen könne: auf ein weißes Hemd im Himmel, wo es keine Hygiene, keinen Schmutz, keine Chemie und auch keine Philosophen mehr gebe.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 3. November 2007, 34