Glocken

Die Osterglocken läuten wieder. Dass die Glocken in den drei Kartagen vor Ostern dem Volksmund zufolge nach Rom fliegen und ihr vertrauter Klang fehlt, fällt heute im Lärm der Großstadt kaum mehr auf. Aber auch der Lärm der Ratschenbuben wird kaum mehr wahrgenommen. Ihr Lärm soll die bösen Geister vertreiben. Das ist der Urgrund der ratternden Ratschen, die den Wohlklang der Glocken für drei Tage ersetzen, wie auch das Lärmen der Glöckler, Aperschnalzer oder Böllerschützen.

Glocken bedeuten Freiheit. Sie verpflichten. Sie verkünden Freude und Leid, rufen zur Messe, zur Arbeit, zur Ruhe. Sie loben, warnen, retten, mahnen, erinnern. Magische Kräfte wurden ihnen einst zugeordnet: Glocken fliegen, Glocken kehren zurück, Glocken fangen von selbst zu läuten an. Sie versinken, verschwinden, zerspringen. Man hört sie auch noch, wenn sie tief unten im Wasser versunken sind. Glocken gehörten, einem geflügelten Wort Kaiser Karls V. zufolge, einst zu den drei Dingen, die eine Stadt unbedingt haben musste: Tore zur Wahrung der Sicherheit, Schulen zur Förderung der Bildung, und eben Glocken zur Regelung des Tages- und Lebenslaufs. Fast ununterbrochen war man vom Glockenklang und Glockengebimmel umgeben, der Kirchenglocken, Bierglocken, Schulglocken, Fabriksglocken, Fahrzeugglocken, Kuhglocken.

Glocken symbolisieren Freiheit und Frieden, im christlichen wie im weltlichen Sinn: Zweimal waren die Glocken der Kirchen Österreichs im 20. Jahrhundert bedroht, wurden beschlagnahmt und eingeschmolzen und wurde ihr bronzener Wohlklang durch eiserne Härte ersetzt. Auch die größte Glocke Österreichs, die Pummerin, die 1711 aus nach der zweiten Türkenbelagerung zurückgebliebenen Kanonenkugeln gegossen worden war, wurde 1945 zerstört. 1951 wurde in Sankt Florian die neue Pummerin aus den Trümmern der alten Glocke gegossen. Ein jubelnder Festzug begleitete sie quer durch die sowjetische Besatzungszone bis nach Wien. Österreichs wieder gewonnene Einheit, Freiheit und Wiederaufbau wurden machtvoll demonstriert.

Die Glocken sind zwar vor mehr als 4000 Jahren in China erfunden worden. Doch sie wurden zum Zeichen Europas. Als „Glockeneuropa“ hat der Wiener Kulturhistoriker Friedrich Heer die kulturelle Identität der europäischen Völker bezeichnet. Der heilige Don Bosco, der Gründer des Salesianer-Ordens, hatte um das Jahr 1865 eine unheilvolle Vision des von Hass und Krieg getriebenen Europa: „Die Glocken bersten, Städte sinken in Trümmer, Dome stehen wie Fackeln in der Nacht. Es ist wie das Ende des Abendlandes!“ Dass die Glocken inzwischen wieder läuten, gibt Hoffnung. Hoffentlich werden sie gehört.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 15. April 2006