Glückspilz

Jemanden als Glückspilz zu bezeichnen, war schon im 17. Jahrhundert üblich. Allerdings war die Redewendung sehr negativ besetzt. Es war eine Bezeichnung für Taugenichtse, die sich nur auf ihr Glück verließen. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Bezeichnung wertneutral oder sogar positiv. Das Glück breche so zufällig aus, wie die Pilze aus dem Boden zu schießen scheinen. Aber warum sind nicht der wohlschmeckende Herrenpilz oder der stolze Parasol die Glückspilze, sondern einer der wenigen wirklich giftigen Pilze in unseren Wäldern, der Fliegenpilz, der neben Hufeisen, Rauchfangkehrern und vierblättrigen Kleeblättern zu den beliebtesten Neujahrsgeschenken zählt? Ist es bloß das schöne Äußere, das mit seinem Rot und Weiß so auffällig zu den Farben des Weihnachtsmannes zu passen scheint. Oder ist es gerade das Gift, das den Fliegenpilz zum Glücksspender macht?

Das Gift des Fliegenpilzes hat tatsächlich drogenähnliche Wirkung und kann in tranceähnliche Zustände versetzen. Der Fliegenpilz hat viele Namen. Die meisten sind auf seine halluzinogenen Eigenschaften zurückzuführen, die mit Fliegen als Symbolen des Teufel umschrieben werden können. Man hat ihn daher mit allen möglichen Berichten und Traditionen in Zusammenhang gebracht, wo in alten Mythen und Sagen von rausch- ähnlichen Zuständen und übernatürliche Kräften berichtet wurde. Haben die ger- manischen Berserker, bevor sie in den Krieg zogen, sich mit Fliegenpilzextrakten in ihre rauschartigen, Bärenkräfte verleihenden Zustände versetzt? Sind Fliegenpilzextrakte das berühmte „Soma“, dem in den altindischen Texten so viel Raum gewidmet wurde? Haben sich keltische Druiden mit Fliegenpilzen gedopt? Dass sibirische Schamanen sich mit Fliegenpilzen in ekstatische Zustände versetzten und diese noch dadurch verstärkten, dass sie den eigenen Urin nach dem Konsum der Fliegenpilzsäfte tranken oder anderen weiterreichten, wird von verschiedenen Quellen berichtet. Manche Mythenforscher würden im Weihnachtmann und im Nikolaus am liebsten versteckte Schamanen sehen, deren rote Kleidung mit weißer Verbrämung noch die Erinnerung an den Fliegenpilz weiter trage.

Der Fliegenpilz-Kult verschwand, nachdem die weniger unberechenbaren alkoholischen Getränke bekannt geworden waren. So mögen wir zu Silvester zwar Glückspilze schenken, uns aber statt eines Glückstrunkes vom Fliegenpilz lieber an den Saft der Reben oder ein Gebräu aus Hopfen und Gerste halten, aber auch da nicht zu viel, damit das Neue Jahr nicht mit einem Brummkopf oder gar einem gewaltigen Kater anfängt.

Roman Sandgruber

Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 29. Dezember 2007, 33.