Die Angewohnheit, Ohrringe zu tragen, reicht weit in die Geschichte der Menschheit zurück. Doch die Moden, wer Ohrringe trägt, wechselten stark.
Die Antike und das frühe Mittelalter kannten Männer- und Frauenohrringe. Im späteren Mittelalter waren Ohrringe in Europa kaum üblich, weder für Frauen noch für Männer. Auf spätmittelalterlichen Bildzeugnissen findet man keine Frauenohrringe und nur höchst selten Abbildungen von Männer-Ohrringen, und dies nur bei Orientalen, Bösewichten und sonstigen Außenseitern. Das Institut für Mittelalterliche Realienkunde in Krems hat mehr als 15.000 spätmittelalterliche Bildquellen aus Österreich gesammelt: Ohrringe kommen auf diesen Bildern ganze neunmal vor, und davon siebenmal bei den Hl. Drei Königen und zweimal bei bösen Gerichtsknechten in der Passion Christi.
Im 17. Jahrhundert trifft man vereinzelt auch bei respektablen Persönlichkeiten auf Ohrringe, etwa bei den Königen Karl I. von England und Heinrich III. von Frankreich. Auch Rembrandt trug ein Flinserl. Natürlich wurde das nachgeahmt, von Höflingen und Möchtegernkünstlern. Im 18. Jahrhundert, als die langen Perücken den Kopfschmuck dominierten, gaben Ohrringe wieder recht wenig Sinn. Erst die Französische Revolution hatte nicht nur den Männern die Zöpfe abgeschnitten, sondern ihnen auch den Ohrring als wiederum neue Mode gebracht. Napoleons Schwager Joachim Murat oder auch der bayerische König Maximilian I. Joseph wurden zu Schrittmachern.
Mit der Französischen Revolution und den Truppen Napoleons schwappte eine Welle der „Ringerl“ und „Flinserl“ über Mitteleuropa. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren Ohrringe beim österreichischen Militär sehr beliebt. Auch Vertreter der Kunst wie Franz Grillparzer, Robert Schumann oder August Iffland waren Flinserlträger. Und auch reiche Bauern und ehrbare Facharbeiter suchten damit Würde und Ansehen auszudrücken. In den 1870er Jahren war es für qualifizierte Arbeiter in der Wiener Neustädter Lokomotivfabrik, etwa Gießer oder Dreher, fast obligat, mit einem „Flinserl“ im Ohr und einem Zylinder am Kopf ihrer Tätigkeit nachzugehen.
Der Männerohrring rutschte aber bald wieder zum Kennzeichen für Außenseiter und Randgruppen ab, für Schiffer und Kutscher, Straßensänger und fahrende Gesellen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts war der Männerohrring fast ganz verschwunden oder wurde tabuisiert. Nur da und dort, im Appenzell oder auf Norderney, war er zum Bestandteil der Volkstrachten geworden und akzeptiert.
Mit der Jugendkultur der 1970er Jahre tauchten Ohrringe als Zeichen des Protests und Bürgerschrecks, rechts getragen auch als Zeichen bekennender Homosexualität, wieder auf. Inzwischen hat man sich daran gewöhnt. Doch die Gruppe jener, die Ohrringe bei Männern vehement ablehnt, ist immer noch wesentlich größer als jene der Befürworter.
Roman Sandgruber
Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 6. August 2005, 30.
Artikel von Roman Sandgruber aus der Serie "Alltagsdinge" in den Oberösterreichischen Nachrichten.