Kopftücher regen auf. Ein simples Stück Tuch. Vor hundert Jahren wäre es noch anders gewesen. Eine moslemische Frau hätte bei uns nicht Aufsehen oder gar einen Aufruhr verursacht, weil sie ein Kopftuch getragen hätte, sondern wenn sie, wie damals in der Türkei üblich, in einer weiten Pluderhose über die Linzer Landstraße spaziert wäre. Denn alle österreichischen Frauen trugen damals Kopftücher, die ganz modischen einen Hut, aber keine Frau eine Hose. 1911 hatte Linz solch einen „Hosenskandal“, wie einem Bericht der damaligen Linzer Tagespost zu entnehmen ist: Eine Dame erschien in einem Hosenrock aus schwarzem Plüsch auf dem Franz-Josef-Platz, dem heutigen Hauptplatz, und spazierte über die Landstraße. Es sammelten sich bald Neugierige um sie und einige besonders Erboste zerrissen ihr den Mantel und den Hosenrock. Schließlich musste sie in ein Delikatessengeschäft flüchten. Es versammelte sich eine gewaltige Menschenmenge, der Tramwayverkehr erlitt eine Stockung und nur unter Polizeischutz konnte die Dame entkommen.
Während Hosen heute niemanden mehr aufzuregen vermögen, ist das das Kopftuch zum Gegenstand heftiger Kontroversen geworden: als Zeichen des islamischen Fundamentalismus und der Unterwerfung und Unterordnung der Frau: Dabei haben Kopftücher und das allgemeine Verhüllen des Hauptes sowohl in der europäisch-christlichen wie in der außereuropäischen Tradition hohen Symbolwert und eine lange Tradition. Das althochdeutsche „wiba“, im Neuhochdeutschen „Weib“, bedeutet ja nichts anderes als die „Verhüllte“. Kopftücher waren bis ins 20. Jahrhundert wesentliche Bestandteile der Frauenkleidung und Frauentracht. Eine Mariendarstellung ohne Kopftuch ist noch heute fast undenkbar. Während in der europäischen Zivilisation das Kopftuch seine sinnstiftende Bedeutung weitgehend verloren hat, ist das islamische Kopftuch Gegenstand heftigster Kontroversen geworden. Die Fronten der Befürworter und Gegner überschneiden und kreuzen sich: In der Gegnerschaft vereinen sich linke Vordenkerinnen der Frauenemanzipation und rechte Hüter abendländischer Werte. Die Antiklerikalen bekämpfen das Kopftuch und meinen das Kreuz, die Nationalen verwehren sich gegen Kopftücher und meinen die Ausländer.
Kopftücher sind als Kleidungsstücke soziale, politische, kulturelle und nationale Symbole, die zu respektieren sind, solange sie nicht den Grundsätzen von Freiheit und Selbstbestimmung widersprechen oder mit sonstigen Menschenrechten in Konflikt kommen und für die Unterdrückung der Frau, den Kampf der Kulturen oder friedensfeindliche Zielsetzungen missbraucht werden.
Roman Sandgruber
Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 19. November 2005