Kommt uns der Winter abhanden? In den vergangenen 1300 Jahren war es in den Alpen noch nie so warm wie jetzt, vermuten die Meteorologen. Das weckt bei den einen Ängste, bei anderen auch Erwartungen. Jahrhunderte hinweg haben wir uns an die Einschätzung vom Winter als dem größten Feind des Menschen gewöhnt gehabt. „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, der Titel des Erfolgsromans von Christoph Ransmayr, gibt die Linie vor. Von Adalbert Stifter bis Peter Rosegger erfahren wir von der feindlichen Außenwelt der Winterszeit. Nicht nur Romantiker träumten von den Ländern mit ewigem Frühling.
Inzwischen hat der Winter längst seine Schrecken verloren. Früher, so erinnert man sich, waren die Winter viel strenger. Die Strapazen und Gefahren des Winters waren enorm, und ein Jahr ohne Sommer wie 1816, als das ganze Jahr über immer wieder Schnee fiel, hatte eine furchtbare Hungersnot zur Folge, die letzte, die in Europa klimatisch verursacht war. Es mangelt uns heute nicht an winterfester Kleidung. Die Häuser sind wohlig warm, im Auto ist es geheizt, die Straßen sind durch viel Streusalz eisfrei. Und Hungern im Winter – ja, die Vögel oder die sonstigen Wildtiere. Aber dass Menschen bei uns hungern oder frieren, kommt fast nicht mehr vor. Ist der Winter unser Freund geworden? Wir verfallen in Katastrophenstimmung, wenn der Winter nicht und nicht kommen will. Es verdirbt uns das Gemüt, wenn am heiligen Abend nicht leise der Schnee rieselt, es stört das Geschäft, wenn der Schnee für die Wintersport fehlt, es ängstigt uns, dass die Winter längerfristig ausbleiben und die letzten Gletscher weg schmelzen könnten. Die Kinder freuen sich über den Schnee. Die Liftbetreiber brauchen Schnee. Und wenn er nicht vom Himmel fällt, kommt er aus den Schneekanonen. Die Straßenerhalter und Hausmeister mögen ihn zwar nicht. Aber auch für sie hat die moderne Technik alles bereit, um dem Winter seine Schrecken zu nehmen.
Der Winter ist der größte Freund des Menschen, schreibt der große Wirtschaftshistoriker David Landes, emeritierter Professor der renommierten Harvard Universität in seiner grundlegenden Weltwirtschaftsgeschichte über „Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind“. Aber er meint es natürlich ganz anders, als wir es heute verstehen würden. Für Landes ist klar: Es sind die kalten Länder, die am ehesten den Weg in den Wohlstand geschafft haben. Aufs Ganze gesehen, so Landes, übertrifft die Beschwerlichkeit der Hitze die der Kälte. Gegen die Kälte kann der Mensch viel mehr technische Hilfsmittel entwickeln als gegen die Hitze. Gegen Kälte schützt man sich durch Kleidung und Bewegung. Gegen Hitze gibt es nur den Schweiß und die Kühlmaschinen, oder noch viel besser, keinen Schweiß zu erzeugen, das heißt, Siesta zu halten und keine Energie zu verbrauchen. Für Landes ist es kein Zufall, dass die Sklavenarbeit vornehmlich in tropischen und subtropischen Regionen verbreitet war. Der Kapitalismus ist ein Kind des Winters. Das bezieht sich auch auf die Notwendigkeit der Vorrats- und Lagerbildung, die sich in Regionen mit langer Winterszeit sehr viel ausgeprägter darstellte als in Regionen, wo zwei oder sogar mehr Ernten im Jahr möglich sind und die Natur ihr Füllhorn mehr oder weniger gleichmäßig das Jahr über anbietet. Die Notwendigkeit der Vorratshaltung stimulierte die Kapitalbildung und die Notwendigkeit warmer Kleidung und fester Häuser stimulierte die Nachfrage. Dass der Winter in den kalten Ländern die grassierenden Seuchen häufig zum Erliegen gebracht hat, zählte ebenfalls zu seinen Aktivseiten.
Nichts zu tun hat solches Lob des Winters mit allen rassistischen Etikettierungen nordischer, „aus der Kälte kommender“ Menschenschläge. Alle Zivilisation kommt aus dem Eis, hatte Hanns Hörbiger, der Erfinder des „Hörbiger-Ventils“ und Ahnherr aller österreichischen Schauspieler dieses Namens, in seiner 1913 veröffentlichten pseudowissenschaftlichen „Glazial-Kosmogonie“ auf mehr als 800 Seiten darzulegen versucht. Hanns Hörbiger gilt als der Begründer der so genannten Welteislehre, der zufolge die Welt und alles Leben im Eis entstanden sei und alles Edle aus dem eisigen Norden und von den nordischen Rassen komme, was vor allem bei den Nationalsozialisten begeistert Anklang fand.
Führende Nationalsozialisten, vor allem Heinrich Himmler, waren Anhänger der Welteislehre, auch wenn Hörbiger selbst, der bereits 1931 verstorben war, mit den Nationalsozialisten nichts zu tun hatte. Die „Herrenrasse“ der Arier sei im ewigen Eis des Nordens erstarkt und habe in Thule, dem wahren Ort des antiken Atlantis, eine untergegangene Hochkultur errichtet, phantasierte man. Gleich dem Zyklus der Welteislehre von Werden und Vergehen werde die nordische Herrenrasse mit dem Dritten Reich wieder auferstehen und den ihr gebührenden Platz einnehmen.
Adolf Hitler hatte Hörbiger sehr verehrt. In seinen Ausbauplänen für Linz gibt es auch den Plan für ein riesiges Hörbiger-Denkmal und Hörbiger-Observatorium. Auf dem Pöstlingberg sollte es zu stehen kommen, an Stelle der Wallfahrtskirche: „Den Götzen-Tempel dort (gemeint die Wallfahrtskirche) beseitige ich und setze das dafür hinauf ...“, meinte Hitler 1942; und Gauleiter August Eigruber fügte hinzu: „Auch wenn die 'Profaxen' darüber die Nase rümpfen ...“ So ist die Vorstellung von der reinigenden Kraft des Eises und der Bedeutung des Winters als Freund des Menschen zur rassistischen Pseudowissenschaft verkommen und erstarrt.
Roman Sandgruber
Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 14. Dezember 2006