Glaubt ihr noch an das Christkind? Die Frage, die so religiös klingt, ist eine recht weltliche geworden. Der Weihnachts- Rummel, der jedes Jahr nach immer noch größeren Geschenks- Rekorden giert, gibt sich Kindern gegenüber eine merkwürdig metaphysische Einbettung, als würden die Ge- schenke von einer überirdischen Kraft vorbei gebracht: Die Kinder schreiben an das Christkind, das doch ohnehin alles wissen müsste, sie warten auf die Bescherung, die keine Über- raschung darstellt, gucken durchs Schlüsselloch, wo doch nur die Eltern drinnen sind, und stimmen dann ein in das „Ah“ und „Oh“ vor dem aus der Plantage stammenden Nadelbaum, der nach der neuesten Mode geschmückt ist und vor dem gesungen, musiziert und da und dort auch gebetet oder das Evangelium verlesen wird. Das Neuheidentum sucht nach liturgischen Symbolen.
Das Christkind, das sich derart als geheimnisvoller Gabenspender durch die Häuser bewegt, ist eigentlich eine protestantische Erfindung, um dem Kult des hl. Nikolaus entgegen zu wirken, der früher der beliebteste Gabenbringer war und mit dem die Reformatoren, die die Heiligenkulte generell ablehnten, wenig Freude hatten. Dass das Christkind heute in den evangelisch geprägten Ländern vom Weihnachtsmann weitgehend verdrängt und in katholischen Regionen viel stärker präsent ist als in den evangelischen, ist eine der merkwürdigen Drehungen der Geschichte.
Bis vor hundert Jahren kam im Mühlviertel und Böhmerwald nicht das Christkind, sondern das Goldene Rössl. Anderswo waren es der Schimmelreiter, der Julbock, der Butzenbrecht, die Pudelfrau oder in Siebenbürgen das Christferkel. Neben dem Nikolaus konnten auch die Heiligen Lucia und Barbara oder der heilige Martin und der heilige Joseph als Gabenbringer auftreten. Heute rückt der Weihnachtsmann immer stärker in den Vordergrund, auch wenn gendermäßig korrekt, aber in Wahrheit in sexistischer Übersteigerung, auch dann und wann ein aufreizendes Girl in der Maske des weißbärtigen Sackträgers stecken darf. Moritz von Schwind schuf 1847 den Herrn Winter: er ist das Vorbild aller weiteren Weihnachtsmann-Darstellungen geworden. Seit 1931 zeichnete der aus Norwegen stammende Grafiker und Cartoonist Haddon Sundblom jedes Jahr für Coca Cola einen dickbauchigen, rot gewandeten Weihnachtsmann. Seine füllige Erscheinung passte perfekt zu den Punschhütten, Paketbergen und überreich gedeckten Tischen des Weihnachtskommerzes. Was das wirkliche Christkind und was die wirkliche Weihnachtsgeschichte ist, ist dabei fast in Vergessenheit geraten.
Roman Sandgruber
Aus der Serie "Alltagsdinge". Oberösterreichische Nachrichten, 23. Dezember 2006